„Maßvoll maßlos“ – Autorin Rebekka Kricheldorf im Interview 

Daniel Theuring: Liebe Rebekka, wie bist du darauf gekommen, über die Kardinaltugenden ein Theaterstück zu schreiben? Wer hat dich beauftragt? Wie bist du damit zurechtgekommen? 

Rebekka Kricheldorf: Beauftragt, ein Stück zu schreiben, hat mich das Theater Heidelberg. Beauftragt, ein Stück über die Kardinaltugenden zu schreiben, habe ich mich selbst. Das Theater plante ein Autor:innen-Festival zum Thema „Widerstand“, da reizte es mich, etwas über eher misslungene, heuchlerische Formen des Widerstands zu schreiben, also die Ambivalenzen des ethischen Konsums, Greenwashing, woke capitalism. Über diesen eher tagespolitischen Themenkomplex kam ich dann zu universelleren Moralfragen und den Kardinaltugenden. 

DT: Wie lange hast du an „Die Guten“ geschrieben? 

RK: Ich kann nie genau sagen, wann die Arbeit an einem Stück genau anfängt: Beim darüber Nachdenken? Bei der Recherche? Oder wirklich erst beim Schreiben? Für dieses Stück hab ich lange recherchiert, also sehr, sehr viel gelesen, bevor ich überhaupt mit dem Schreiben anfing. 

DT: “Die Guten” sind ein Theaterstück über Allegorien, die der Menschheit seit der Antike als Handlungsanweisung, um Gutes zu tun an die Hand gegeben wurden. Das ist eine komfortable Ausgangssituation, oder? Wie schwierig war es, aus Stilmitteln Figuren zu machen? 

RK: Ich hab ja grundsätzlich eine Affinität zu mythischen, prototypischen Figuren: Superhelden, Werwölfe, Märchentiere, Vampire. Da war der Weg zu den Allegorien nicht mehr allzu weit. Das Dankbare an Figuren, die nicht psychologisch, sondern eher Konzepte sind, ist ja, dass man sie genüsslich gegen den Strich bürsten, von ihrem hohen Ross hinunter in die Niederungen des Alltäglichen ziehen und daraus wunderbares Witzkapital schlagen kann. Die Beschreibung der klassischen Kardinaltugenden bietet einem ja schon sehr viel mögliche Handlung und auch Komik auf dem Silbertablett. Ich musste eher gucken, dass ich mich beschränke, weil ich so viel schönes und interessantes Material gefunden habe. Deshalb ist auch noch die eine oder andere subalterne Tugend wie die Demut oder die Keuschheit mit ins Stück geraten. Wirklich, ich hätte locker ein Zwölf-Stunden-Stück daraus machen können! Schon allein das Nachdenken darüber, was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet, wie sich eine fleischgewordene Iustitia angesichts der Weltlage so fühlen könnte und was für aktuelle Beispiele für schwere Verstöße gegen das Gerechtigkeitsprinzip es gerade gibt, wäre schon mehr als abendfüllend. 

Foto: Robert Frank

DT: Hast du eine Lieblingstugend und wenn, warum? 

RK: Ich mag ja alle vier sehr gern, aber am nächsten ist mir Temperantia, die Mäßigung. Vielleicht, weil ich das Ringen um sie persönlich sehr gut kenne … 

DT: Was bedeuten für dich Humor und Komik, wenn du an Dein Theaterstück „Die Guten“ denkst und was bedeuten sie für dein Schreiben generell? 

RK: Komik ist für mein Schreiben essenziell, würde ich sagen. Die Idee von Komik als Waffe der Aufklärung ist mir sehr nah. Aber auch Komik als Überlebensstrategie, also, im (gemeinsamen) Lachen mit den Ungeheuerlichkeiten des Lebens klarzukommen. 

DT: Was bedeutet Ironie für dich und das Stück? 
Was bedeutet Sarkasmus für dich und das Stück? 
Was bedeutet Zynismus für dich und das Stück? 

RK: Beim Schreiben spielen Ironie, Sarkasmus und Zynismus für mich erst mal überhaupt keine Rolle. Das heißt, ich denke nicht bei jedem Satz darüber nach, in welches Humorregister der jetzt fällt. Ich frage mich beim Schreiben eher, wer sich gerade über wen oder was lustig macht und warum. Die Tugenden zum Beispiel dissen sich ja munter gegenseitig, aber eher wie Schwestern, die bei einer Familienfeier zu lange aufeinander hocken müssen. Es gibt eine Stelle im Text, in der sich zumindest drei von ihnen genüsslich in beißendem Sarkasmus suhlen, das passiert dann, wenn sie die Menschen nachäffen. Da sind sie einfach bitter enttäuscht und machen so ihrer Enttäuschung Luft. Aber zynisch werden sie eigentlich nie, denn sie sind, ihrer jahrtausendelangen Erfahrung zum Trotz, keine Misanthropinnen. 

DT: Ich mag deinen Humor und deine Selbstkritik, wenn du über Menschen schreibst. Aber damit kann man auch anecken, oder?   

RK: Man kann mit allem, was man schreibt, anecken! Mein Projekt, die Selbstgefälligkeit der eigenen Blase humoristisch-kritisch zu hinterfragen, gefällt natürlich nicht jedem. Aber ich bin ja auch nicht angetreten, um dem Publikum eine maximale Wohlfühl-Atmosphäre anzubieten. Meine Devise lautet: „verstörende Unterhaltung“. 

DT: Die Kardinaltugenden haben diverse Attribute bei sich und tierische Gefährte(n), die Tapferkeit, Fortitudo, hat einen Löwen, der vor der Tür geparkt ständig brüllt. Wie präsent waren dir diese Eigenheiten beim Schreiben? 

RK: Die Attribute sind großartiges Komik-Material. Wir Nachgeborenen haben ja zu vielen Aspekten der antiken Symbolik keinen Bezug mehr, können sie nicht mehr oder nur noch schlecht deuten. Die Waage von Iustitia ist uns bekannt, die können wir noch verstehen, aber warum hat die Klugheit eine Schlange in der Hand? Mit diesen mehr oder weniger schrägen Attributen lässt sich wunderbar spielen, gerade auch auf einer Theaterbühne. Fundstücke wie Temperantias Behälter zum Mischen von Wasser und Wein als Zeichen ihres gemäßigten Konsums sozusagen, sind natürlich tolle, humoristische Identifikationsangebote an uns heutige. 

DT: Im Verlauf des Stückes kristallisiert sich heraus, dass die Kardinaltugenden auch menschliche Schwächen haben, das schafft Identifikation, Mitgefühl und hat einen bissigen Witz, hast du dadurch auch einen direkten Zugang zu diesem formalen Stilmittel der Allegorie gesucht und gefunden? 

RK: Allegorien menscheln ja grundsätzlich immer, da sie ausnahmslos von Menschen erdacht wurden. Das ist auch das, was an griechischen Göttern so sympathisch ist: sie versuchen gar nicht erst, ihre Menschlichkeit zu verschleiern. Bei den monotheistischen Gottheiten, die so seriös daherkommen, mag man manchmal vergessen, dass sie auch nur ausgedacht sind, ausgestattet mit allen Fehlern, Schwächen und schiefen Weltbildern ihrer Erfinder. Die vier Guten behaupten auch eine Weisheit und universelle Gültigkeit, die sie nicht haben. Hinter ihnen steht ein kleiner Mensch, der auch nur ein Produkt seiner Zeit, seiner Umwelt und seines begrenzen Horizontes ist, nämlich ich, die Autorin. 

DT: Bei der ersten Leseprobe deines Stückes mit den Schauspieler:innen hat sich all das Potenzial, was ich beim Lesen an meinem Schreibtisch darin gesehen habe, eingelöst. Das ist für den Dramaturg ein großes Glücksgefühl. Wie waren die Rückmeldungen der anderen Kolleg:innen, die das Stück angesetzt haben? 

RK: Bis jetzt bekomme ich auch oft die Rückmeldung, dass das Stück sehr gerne gespielt wird. Solche „bigger than life“-Figuren bieten ja auch bestes Schauspieler:innenfutter, da kann man dem Theateraffen richtig Zucker geben! 

DT: Ich habe ja jetzt schon verraten, dass die erste Leseprobe bei mir Glücksgefühle und großen Spaß ausgelöst hat, aber warum meinst du, dass man sich „Die Guten“ unbedingt anschauen kommen sollte? 

RK: Ha, Eigenlob ist doch Eitelkeit, also eine Todsünde! Aber gut: Ich empfehle das Stück wärmstens, da sich die Autorin redlich darum bemüht hat, Infotainment auf höchstem Niveau zu bieten! Es könnte sowohl für philosophisch als auch politisch Interessierte ein Gewinn sein. Vom Impulsreferat bis zum Klamauk ist alles dabei. Und es bietet sicher einigen Stoff für Gespräche nach der Vorstellung beim Wein. Oder wenn man Temperantia gefallen will: Weinschorle. 

DT: Vielen Dank für das Gespräch.