Ein Essay von Produktionsdramaturgin Mona Schlatter
Liebe Kinder und alle, die wieder welche werden wollen,
„Alice im Wunderland“ von Lewis Caroll befreit sich und entwischt. Dieses nach Shakespeare berühmteste Stück englischer Literatur schiebt sich entstehungsgeschichtlich zusammen wie ein Fernrohr auf einen legendär gewordenen Bootsausflug am 4. Juli 1862: Der Mathematikdozent vom Christ Church College (Oxford) Charles Lutwidge Dodgson rudert mit einem Freund und den drei Töchtern des Dekans auf der Themse: Edith, Lorina und die zehnjährige Alice Liddell: „Wir erhoben alle drei den altbekannten Appell: ‚wir wollen eine Geschichte hören‘, und so begann dann die ewig entzückende Erzählung.“ So der Marketing-wirksame Mythos, der die Erscheinung von „Alice in Wonderland“ 1865 unter Dodgson Künstlernamen Lewis Carroll begleitet.
Nicht nur die historische Alice wächst, auch das von dem bekannten Satiriker und Illustrator John Tenniel bebilderte Buch wird groß, wächst über sich hinaus. Verdoppelt sich mit dem zweiten Teil „Alice hinter den Spiegeln“ (1872). Seitdem ist Alice überall, nimmt alle möglichen und unmöglichen Formen an – Alice ist eine Entfesselungskünstlerin. Sie befreit sich und entwischt. Aus den Fesseln der viktorianischen Zeit und ihrer reaktionären Moralerziehung, aus den Fesseln der Logik in grenzgängerische Paradoxien und unendliche Sprachspiele und aus den zwei Deckeln eines Buches in ein internationales, multimediales Spektakel (Comics, Oper, Film und Theater).
Die Regisseurin Fanny Brunner hat sich mit ihrer Überarbeitung von Peter Sieferts Fassung (aus dem Jahr 2000) für eine „Alice“ entschieden, die sich im Labyrinth des Aufwachsens, Aufwachens durchschlägt, die sich kämpferisch im System der köpfenden Königin gibt, die den Männern die Meinung geigt und den Willkürstaat im Wunderland als das bezeichnet, was er ist: Unsinn.
Auch bei uns beginnt die Heldinnenreise von Alice historisch, im viktorianisch-feudalen Familiensystem: Vater (René Dalla Costa), Mutter (Eva Kuen), Onkel (Jonatan Blomeier), Lehrer (Johannes Karl), Dienstmädchen (Viktoria Obermarzoner) und gelangweiltes Kind betreten die Bühne, bevor die Welt kippt und Alice (Vivienne Causemann) dem weißen Kaninchen mit der tickenden Uhr Down the Rabbithole nachreist: Ins Wunderland. Dort stehen die Figuren der Familie plötzlich Kopf, verwandeln sich in komische, monströse oder exzentrische Doppelgänger. Im Wunderland der familiären Figurationen der Unruhe wird Alice auch in Bozen Reißaus nehmen und zu einer Ikone der paradoxen Moderne werden. Die widersprüchliche Welt der Erwachsenen, ihr Glück und ihr Terror aus den Augen eines jungen Mädchens zu erleben, fordert nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene heraus, über das nachzudenken, was wir für selbstverständlich halten.
Alice im Wunderland von Lewis Carroll, dieser Klassiker der Kinderliteratur, dieses Meisterwerk des Nonsens, befreit nicht nur Alice, sondern auch sein Publikum von den Fesseln des eingeübten Blicks der Erwachsenen, wie Virginia Wolf feststellt: „The two Alices are not books for children; they are the only books in which we become children.“ – „Die zwei Alices sind keine Bücher für Kinder, sie sind die einzigen Bücher, in denen wir Kinder werden.“