Elisabeth Thaler:Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform?
Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.
Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt?
Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht…
Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“?
Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.
Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern?
Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte.
Magisch, mannigfaltig, groß und grün: Was ist die Transart OASIE noch alles? Hier gibt es Unsinniges, Eigensinniges und Vielsinniges zu entdecken. Wir bewegen uns achtsam und langsam, erkunden gemeinsam einen neuen Ort, der vielleicht bald nicht mehr sein wird … Wenn wir Spuren erspähen, folgen wir ihnen behutsam, lassen uns von ihnen leiten, begleiten und inspirieren: Farben, Formen, Schatten und Muster weisen uns den Weg über ein Gelände, wo Stadt und Natur und Malerei miteinander verschmelzen. Augen auf, Ohren auf, Hände und Füße bewegen sich, die Nase schnüffelt und erforscht alles. Und FLAMINGA ruft laut: Welche Perspektiven verstecken sich in diesem Raum? Hoch, tief oder in der Mitte? Hinten oder vorne? Und wir folgen ihrem Ruf: Aus verschiedenen Blickrichtungen nehmen wir ihn wahr, diesen neuen Raum. Und fragen uns auch: Welche Geschichten mögen hier wohl noch entdeckt werden? Welche Wörter müssen dafür noch gefunden und erfunden werden?
Eltern können mit ihren Kindern am Anfang zusammen teilnehmen, im zweiten Teil warten die Eltern in der Chill-Lounge auf ihre Kinder. Anmeldung vor Ort / info@kidscultureclub.it / Tel. +39 353 446 6954
Ein Gespräch mit der Musikalischen Leiterin Elisa Gogou und der Regisseurin Susanne Lietzow
Elisabeth Thaler: „Die lustige Witwe“ ist deine erste Operetteninszenierung. Was hat dich an diesem Genre gereizt?
Susanne Lietzow: Im ersten Moment hat mich der Verruf des Genres gereizt. Die Operette wurde nach dem Vorbild der Pariser Opéra comique als eigenständige Kunstform erfunden, um der Oper eine freiere Art von Musiktheater entgegenzustellen. Die Aufführungsgeschichte jedoch hat die Operette extrem in ein konservatives Eck gebracht. Es gibt nun viele Bestrebungen, das Genre zu aktualisieren und eine andere Generation von Zuschauer:innen neu dafür zu gewinnen. Das hat mich interessiert. „Die lustige Witwe“ ist zudem eine Komödie, die auch einen absurden Zugriff erlaubt, mit einer wunderschönen Liebesgeschichte im Zentrum.
Die Operette wird oft als „leichte Unterhaltung“ angesehen. Was ist die Herausforderung, eine Operette zu dirigieren?
Elisa Gogou: Als Kapellmeister:in ist es absolut notwendig, Operetten zu dirigieren, weil es technisch zu den wichtigsten Aufgaben gehört. Zum Beispiel die Wechsel der Tempi, Übergänge, Auftakte … lernt man nur durch die Operette. Sonst kann man Puccini ecc. nicht begleiten. Einen Walzer zu dirigieren, ist nämlich alles andere als einfach.
Elisa Gogou Foto: Anna Cerrato
„Die lustige Witwe“ wird als 1. Tanzoperette bezeichnet. Was war musikalisch das Neue an diesem Werk?
Elisa Gogou: Lehár war im Genre der Operette ein Anfänger und musste seinen eigenen Stil finden. Es gab Berührungspunkte durch seine Biografie, da er als Violinist in der Kapelle seines Vaters gespielt hat, der wiederum am Theater an der Wien unter Franz von Suppé gespielt hat. Dennoch kannte Lehár als Militärkapellmeister den Walzer nicht sehr gut. Er schaffte es aber, derart kreative und geniale Melodien zu schreiben, die nur mit der „Fledermaus“ zu vergleichen sind. In der „Lustigen Witwe“ unterscheidet er musikalisch zwischen den beiden Regionen. Für Pontevedro schreibt er Mazurka, Polonaise, Kolo. Wenn Hanna Glawari zu den Herren spricht, benutzt sie den Walzer. Für die Franzosen komponiert er Cancan, Galopp, Märsche und den Langsamen Walzer. Mit dieser Operette läutete Lehár eine neue Ära ein. Danach wurden international viele Stücke nach dem Vorbild der „Lustigen Witwe“ geschrieben, doch niemand konnte sie übertreffen.
Lehár ging nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch inhaltlich. Er und seine Librettisten León und Stein sprachen aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an. Das fiktive „Pontevedero“ verweist beispielsweise auf „Montenegro“, die „Damenwahl“ im 1. Finale bezieht sich auf das damals diskutierte allgemeine Wahlrecht. Hanna Glawari gilt als moderne Darstellung einer unabhängigen Frau. Wo trifft dieses Stück auch heute noch den Nerv der Zeit?
Susanne Lietzow: Die Frauenfiguren in der „Lustigen Witwe“ sind von Lehár sehr stark gezeichnet. Dennoch wissen wir alle, dass wir heute frauenpolitisch anders mit diesen Stoffen umgehen müssen, weil sie uninterpretiert auf der Bühne nicht mehr funktionieren. Vor allem muss man die „Altherrenwitze“ eliminieren. Es gibt die wehrhafte Frau im Zentrum, die selbstbewusst um ihre Zukunft kämpft. Es war mir auch ein Anliegen, die Pariser Grisetten nicht als männerbelustigende Hupfdohlen auf die Bühne zu stellen, sondern als Frauen, die sich für dieses Leben bewusst entschieden haben. Diese Umdrehungen sind mir sehr wichtig. Zudem ist es ja auch eine Komödie, und Komödien haben immer einen tieferen Hintergrund und Sinn. Natürlich kann das Spiel mit einer Exilgesellschaft, die zu Hause eine Diktatur erlebt hat und sehr, sehr gerne das demokratische System in Paris mit lebt, als Assoziation ins Jetzt gelesen werden, wo Diktaturen sich wieder ausbreiten und die über Jahre erkämpften Rechte und Freiheiten unserer Gesellschaft wieder angegriffen werden.
Ein humorvoller und gleichzeitig politischer Zugang scheinen gerade bei der Operette oft ein Widerspruch. Wie bringst du beides zusammen?
Susanne Lietzow: Man verstärkt Assoziationen. Als Beispiel nenne ich das Thema „Klassengesellschaft“ in der Beziehung von Hanna und Danilo. Bei uns stammt sie nicht vom Landadel ab, sondern ist ein Dienstmädchen und gehört einem Stand an, der der Liebe zu Danilo völlig im Weg steht. Das Spannende ist, dass sich Hanna komplett darüber hinwegsetzt. In unserer Inszenierung haben wir den beiden eine uneheliche Tochter zur Seite gestellt. Hanna legt großen Wert darauf, dass dieses Mädchen eine so gute Ausbildung bekommt, dass sie auch ohne Mann überleben könnte. Das kann Hanna noch nicht.
Susanne Lietzow Foto: Susanne Lietzow
Wenn wir auf die Liebe schauen, sehen wir verschiedene Liebesgeschichten: die unerfüllte Liebe, die verbotene Liebe, den erotischen Liebeskampf. Spürt man diese Unterschiede auch in der Musik?
Elisa Gogou: In Lehárs Musik geht alles um Erotik und Sinnlichkeit, aber in verschiedenen Facetten. Valencienne ist eine Kokette, das spürt man auch in der Musik, die ihren Charakter beschreibt, ihre Gefühle und Bewegungen. Wenn man die Melodien hört, sieht man Valencienne vor sich, wie sie mit Leichtigkeit und spielerisch mit den Männern umgeht. Das haben die Frauen in dieser Gesellschaft trainiert. Wenn Hanna zu den Männern spricht und ihnen nahekommt, benutzt sie den Langsamen Walzer. Sie hat eine starke Seite und darf entscheiden, wen sie nehmen kann und wen nicht. Beim Duett „Lippen schweigen“ spürt man, dass sich Hanna und Danilo lieben. Es war ihr Schicksal, dass sie sich wiedertreffen und wiederfinden, egal wie ihr Leben inzwischen verlaufen ist. Das Chanson der Grisetten hingegen ist frech. Die Beschreibung der Charaktere ist musikalisch sehr durchsichtig.
Susanne, du hast die Dialoge zum Teil umgeschrieben und aktualisiert. Wie bist du mit dem Text umgegangen?
Susanne Lietzow: Manchmal ist der Text im Original „verplaudert“, manchmal altmodisch und frauenfeindlich. Ich habe versucht, die Sprache frecher und direkter zu nehmen. Sprache ist eine totale Behauptung. Wir spielen Tschechow am Theater und tun so, als ob wir alle Russ:innen wären. Mich hat das Aufeinanderprallen von Franzosen und Slawen in der „Lustigen Witwe“ interessiert, weil es zwei sehr verschiedene Mentalitäten sind, auch sprachlich. Es sind zwei unterschiedliche Melodien. Das fand ich spannend und sehr schön.
Elisa Gogou: Ich finde es auch so toll, dass die Figuren die eigene Sprache benutzen, besonders um zu schimpfen.
Die 20er-Jahre, der „Tanz auf dem Vulkan“, spielen in unserer Inszenierung eine große Rolle. Wo siehst du eine Verbindung zwischen den 20-er Jahren des 20. und den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts?
Susanne Lietzow: Wir haben die Operette zeitlich nicht ins Heute gesetzt, sondern in die 20-er Jahre. Mich berührt diese Zeit, in der nach der großen Verwerfung des 1. Weltkrieges 20 Jahre später wieder ein Weltkrieg möglich war. In den 20-er Jahren erlebten die Menschen eine enorme Aufbruchstimmung in allen Bereichen: für Frauen, für Demokratie … es war eine Zeitenöffnung, die leider nur kurz gedauert hat. Wie war es möglich, nach diesem Gefühl des Aufbruchs so einen Backlash zu veranstalten? Unsere Öffnung heute hat etwas länger angedauert, doch erleben wir zur Zeit leider auch wieder Demokratieverlust, Rückschritt in allen Bereichen. Insofern ist es schön, dass wir auf der Bühne in eine Welt hineinschauen, wo Aufbruchstimmung herrscht.
Elisa, was liebst du an der „Lustigen Witwe“?
Elisa Gogou: Ich liebe die Vielfältigkeit und die Freiheit, die diese Operette zulässt. Die Künstler:innen müssen sich auf der Bühne frei bewegen und singen können. Ich muss als Dirigentin in der Lage sein, das Orchester mitschweben zu lassen. In der „Lustigen Witwe“ ist die Musik so extrovertiert, dass die Sänger:innen die Gefühle spüren, mir in den Graben geben und ich als Mediatorin diese dem Orchester weitergeben muss. Das macht jede Vorstellung spannend und nie langweilig.
Dramaturg Daniel Theuring interviewt seine Kolleg:innen Roman Blumenschein und Ayşe Gülsüm Özelzu der Produktion „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler.
„Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler ist in unserem Spielplan ein von Rudolf Frey getauftes „Rucksackstück“. Nicht weil es im weitesten Sinne um Berg und Tal geht, sondern weil hier ein planerischer Trick angewendet wird. Und der geht so: die Ressource Schauspieler und Regisseur wird aus einem in den Proben befindlichen Stückes akquiriert (Rucksack). In unserem konkreten Fall ging es um „Die treibende Kraft“ als Hauptstück mit einer großen Besetzung, in der nicht immer alle auf den Proben anwesend sein müssen. Diese Freiphasen der einzelnen Schauspieler:innen sind dann als Rahmenzeiten für das Rucksackstück verfügbar, wobei immer dann, wenn das Hauptstück geprobt wird, Teile des Kollektivs in Fassung, Text und szenischer Einrichtung nach Verfügbarkeit daran weiterarbeiten. Eigentlich eine ganz einfache Kalkulation und ein sehr moderner Ansatz, weil sich die klassische hierarchische Arbeit der Regisseur:innen oder szenischen Realisier:innen auf mehrere Schultern verteilt. Unser Kollektiv für „Ein ganzes Leben“ setzt sich aus Roman Blumenschein, Rudolf Frey, Ayşe Özel und mir Daniel Theuring zusammen. Ein weiterer Vorteil dieses Prozederes ist, dass Rudi aus Sicht der Regie Ayşe aus Sicht der Ausstattung Roman aus Sicht des Schauspiels und ich aus Sicht der Dramaturgie natürlich unterschiedlich spiegeln und dabei ein breiter Bereich in der Probenarbeit abgedeckt wird und dass dieses Team insgesamt eine riesige Theatererfahrung eint, die eine Einzelperson niemals haben könnte. Während dieser Probenphase habe ich Ayşe und Roman dazu befragt.
Daniel Theuring: Ich fand die Idee von Rudolf Frey, gemeinsam eine Arbeit zu entwickeln, die wie ein Rucksack funktioniert, großartig und war sehr gespannt darauf. Wie ging es euch mit dieser Idee?
Roman Blumenschein: Den Roman „Ein ganzes Leben“ kenn ich schon lange und als Rudolf Frey mir seine Idee vorgeschlagen hat, war für mich sofort klar, dass ich da anbeißen muss! Wie das mit dem Rucksack genau aussehen würde, konnte ich mir da noch gar nicht so genau vorstellen, lasse mich aber immer gerne auf Experimente ein.
Ayşe Gülsüm Özel: Das Wort „Rucksacktheater“ erweckte gleich mein Interesse, als ich es zum ersten Mal von Rudi zu hören bekam. Es deutet auf eine kleine Dimension hin, gleichzeitig heißt das Stück aber auch „Ein ganzes Leben“. Kombiniert mit dem Wunsch, als Kollektiv zu arbeiten, stellt die Arbeit eine besondere künstlerische Herausforderung dar und eine, die mir großen Spaß macht.
DT: Ihr beide kennt Rudolf Frey schon länger als ich und habt beide schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet, aber auch noch nie in einer kollektiven Einrichtung, oder? Für mich ist es das erste Mal in so einer Konstellation und ich bin begeistert, wie gut das funktioniert. Wie geht es euch damit?
RB: Kollektiv zu arbeiten, ist für mich seit etwa drei Jahren der größte Anreiz in meinem Beruf. In verschiedensten Konstellationen haben wir in Wien Theaterstücke, Hörspiele, Live- Performances und Forschungsprojekte realisiert. Für kollektives Arbeiten am Theater wurden auch schon verschiedene Methoden entwickelt, damit habe ich mich noch gar nicht viel beschäftigt. Für mich bedeutet kollektives Arbeiten, das sich alle auf Augenhöhe begegnen. Regisseur:innen, Spieler:innen, Dramaturg:innen, Bühnenbildner:innen, Musiker:innen, Autor:innen und alle anderen Formen von Künstler:innen, aber auch Techniker:innen, Assistent:innen usw. Die Arbeitsprozesse finden weniger parallel statt, sondern verbinden sich zu einem gemeinsamen. Das Positive daran ist, dass alle mehr Einblick und Verständnis für die kreativen Prozesse der anderen bekommen, was wiederum die Kreativität aller anregt. Und wenn sich niemand hinter einer klar zugeteilten Aufgabe verstecken kann, wird auch von jeder einzelnen Person eine größere Form der Verantwortung für das gesamte Projekt übernommen. Meiner Erfahrung nach klappt kollektiv arbeiten am besten, wenn man sich bereits kennt und mit dem Potenzial aller vertraut ist. Mit dem Dream-Team von „Ein ganzes Leben“ fühle ich mich wirklich sehr beschenkt!
AÖ: Theater ist seinem Wesen nach ein Gesamtkunstwerk, in dem viele Beteiligte mitwirken und jede:r seine Perspektiven einbringt. Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, an dem die kollektive Arbeitsweise passen könnte. 2018 lernte ich das Performance-Kollektiv She She Pop auf einem Festival kennen und nahm an einem mehrtägigen Workshop teil, in dem sie uns vorstellten, was sie als Kollektiv ausmacht und ihre Arbeitsweise vermittelten. Die Stärke und Größe der Gemeinsamkeit ist unbestritten, erfordert aber viel mehr Zeit, Gespräch und Geduld füreinander als in hierarchischen Strukturen. Und das funktioniert, wie Roman auch sagt, am besten, wenn die Beteiligten sich kennen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der alles größer und schneller werden muss, der keinen Raum für nicht erfolgreiche Experimente anbietet. Ich habe mich auch mit dem Konzept „Ayşe X Staatstheater“ von Emre Akal und Antigone Akgün befasst, das für Chancengleichheit und Basisdemokratie im Theater steht, und eine Hypothese entwickelt, wie das Theater dann aussehen würde. Das ist eine tolle Vorstellung und sollte nicht nur Fiktion bleiben. Als Rudi mir unsere erste gemeinsame Arbeit „Dante:Dreams“ anbot, die auch im Kollektiv entstand, stand das Thema für mich bereits im Mittelpunkt und ich bekam so auch die Möglichkeit die Theorien in der Praxis zu betrachten. Die Erfahrung war ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, dass wir nun wieder die Möglichkeit haben, ein weiteres gemeinsames Experiment auf die Beine zu stellen und bin wirklich gespannt, wie gut unser Team mit Daniel, Roman und Rudi zusammenarbeitet.
Teaser: Film IT Südtirol
DT: Roman, ich vermute, dass es für Dich die insgesamt anstrengendste Erfahrung ist, weil Du ja fast immer gleichzeitig auch als Schauspieler in „Die treibende Kraft“ arbeitest. Wie muss man sich das vorstellen?
RB: Da gibt es einerseits die organisatorische Herausforderung, die beiden Dinge unter einen Hut zu bekommen. Anstrengend ist aber vor allem die künstlerische Komponente, da man dauernd auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt und sich nicht mit seiner Kreativität voll und ganz auf eine Sache konzentrieren kann. Ich bin inzwischen von meinem Berufsalltag gewöhnt, dass sich Projekte überschneiden, aber mit so einem Extrem hatte ich es noch nie zu tun. Nach der Premiere von „Die treibende Kraft“ musste ich dann doch eine große Erleichterung feststellen, mich nur mehr auf „Ein ganzes Leben“ konzentrieren zu können.
DT: Ayşe, Du machst normalerweise Bühnen, Kostüme und hast zudem auch noch einen Lehrauftrag an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ist diese Arbeitsweise ein Ansatz mit Zukunftspotenzial?
AÖ: Die Studierenden interessieren sich für das kollektive Arbeiten und wir konzipieren immer wieder Projekte, in denen wir diese Möglichkeit anbieten. Wir betrachten dabei, dass manchmal der Wunsch danach aus einem Pragmatismus entspringt, und das widerspricht sich. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Kollektiv im Vergleich zu Hierarchie mehr Verantwortung bedeutet, mehr Ressourcen braucht und mehr Vertrauen erfordert. Nur dann, wenn wir die Bedingungen anpassen, kann der Ansatz eine Zukunft haben.
DT: Was war euer erster Eindruck vom Stoff „Ein ganzes Leben“?
RB: Ich kannte den Roman schon. Ich kann mich erinnern, dass ich ihn beim ersten Lesen vor ein paar Jahren verschlungen habe und er unmittelbar eine sehr wichtige und tröstliche Komponente in meinem Leben eingenommen hat. Und jetzt bekomme ich mit, dass es sehr vielen Menschen genau so erging. Das finde ich sehr spannend. Der Frage nachzugehen, was genau diese Qualität ausmacht in der Erzählung.
AÖ: Ich hatte das Buch auch in meinem Regal, hatte es aber noch nicht gelesen. Ich habe das Buch geschenkt bekommen, weil ich schon seit vielen Jahren für die Vereinigten Bühnen nach Bozen komme, aber sehr wenig über die Berge und das Leben in den Bergen weiß. Jetzt kenne ich ein ganzes Leben in den Bergen und die Qualität dieses Romans haben mir dieses Leben so präsentiert, dass ich wiederum daraus etwas für mein Leben mitnehmen kann.
DT: Ich habe den Text als sehr inspirierend, schlagfertig, karg und geheimnisvoll zugleich empfunden, gleichzeitig hatte ich allein erst einmal viele Fragen, wie man den wohl in einer performativen und multidisziplinären Art und Weise auf die Bühne bringen kann, ohne dass da nicht die bekannte frontal Vorlesesituation eintritt. Allein hätte ich mir das ehrlich gesagt nur konventionell als szenische Lesung vorstellen können. Unsere gemeinsame Power, den Probenprozess erheblich offener und breiter in allen Bereich werden lassen und das ist eine extrem gute Erfahrung. Wie geht es euch damit?
AÖ: Ja, das ist ein gemeinsames Abenteuer mit offenem Ende auf den Spuren von Andreas Egger. Aber es geht nicht nur darum, seine Geschichte zu erzählen, sondern Andreas Egger erlebbar und spürbar zu machen. Durch diesen Ansatz sind unsere Proben sehr sinnlich geworden und das ist etwas ganz Besonderes.
RB: Ich kenn ja die Arbeiten von Ayşe und Rudolf und ihre oft unkonventionellen Herangehensweisen. Hmm, wie soll ich das beschreiben? Wenn man gefragt wird, ob man einen tollen Text gemeinsam mit so bemerkenswerten Künstler:innen auf eine Bühne stellen will, fühlt sich das an, als würde man als Kind vorm Weihnachtsbaum stehen. Ich liebe solche Abenteuer. Auch weil man nicht weiß, was genau da am Ende rauskommen wird.
DT: Als Dramaturg bin ich in gewisser Weise auch immer verpflichtet, das Werk des Autors zu schützen. Dabei sind Änderungen möglich, aber der Kern und die Struktur sollte dabei nicht neu übersetzt werden, außer es geht um völlig überkommene Vorgänge und Verhaltensweisen, die heute nicht mehr zu vertreten sind. Dann muss man allerdings auch überlegen, ob man den Stoff noch für die Bühne einrichten will und oder warum. Robert Seethaler sagt, dass es ihm gleich ist, was andere Medien, Theater oder Film aus seinem Stoff machen, dass das gelingen und schiefgehen kann, ist ihm bewusst. Aber sein Roman steht deshalb ja trotzdem als Referenz in der Welt und kann dadurch nicht mehr geschmälert werden. Das ist eine sehr liberale und uneitle Haltung für einen Autor, die uns die Freiheit gegeben hat, mit seinem geistigen Eigentum in unserer Fassung für die Bühne frei umgehen zu können. Was bedeutet das für Schauspiel und Ausstattung?
RB: Das ist eine tolle Haltung von Herrn Seethaler! Man nimmt ihm ja nichts weg. Sondern lässt etwas Neues entstehen und generiert dadurch einen universalen künstlerischen Entwicklungsprozess. Für mich als Schauspieler bedeutet das, dass ich den Originaltext nach bühnentauglichem „Material“ analysiere. Was für Figuren gibt es? Gibt es direkte Reden? Welche Schauplätze und Situationen gibt es? So hatten wir alle unsere unterschiedlichen Annäherungen und letztendlich eine, wie ich finde, sehr gute verdichtete Textfassung erstellt.
Foto: Anna Cerrato
AÖ: Jede:r von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass die Verfilmung unseres Lieblingsromans im Kino ganz anders aussah, als wir es uns beim Lesen vorgestellt haben. Vorstellungskraft entsteht aus Wahrnehmungserfahrungen und das ist bei jedem Menschen anders. Es gibt nicht nur einen Andreas Egger, sondern so viele, wie es Menschen gibt, die diese Geschichte erfahren haben, und ich kann nur den einen Egger gestalten, den nur ich kenne.
DT: Es ist schön gemeinsam mit euch dieses Buch auf eine Theaterbühne zu bringen. Wir haben viel gemeinsam erlebt und voneinander profitiert.
AÖ: Egger ist ein Voltron und wir bilden ihn gemeinsam. Wir öffnen uns alle sehr weit und arbeiten eng zusammen, so habe ich die Möglichkeit, eure Herangehensweisen, eure Prozesse mitzuerleben. Das bereichert mich.
DT: Und der Prozess soll nach der Premiere ja auch noch nicht enden. Die Einrichtung soll sich immer weiterentwickeln. Auch eine sehr moderne Methode, die den lebendigen Prozess im Theater vorantreibt.
RB: Darauf bin ich sehr gespannt. Die Idee ist ja, ein paar Elemente in diesem Theatererlebnis zu haben, die nicht berechenbar sind, also immer einen neuen überraschenden Input geben für den weiteren Verlauf der Performance. Oder etwas, das wachsen kann und von Vorstellung zu Vorstellung mehr Form annimmt. Ja, ich glaube, es ist ein zeitgemäßer Ansatz, Theater aus dem abgesicherten Setting von- Publikum sitzt im Zuschauerraum, Vorhang auf Show auf der Bühne, Vorhang zu – mehr zu einem Happening zu entwickeln und dass sich das Publikum mehr einbringen muss und in gewisser Weise Mitgestalter wird. Jedenfalls würde mich das sehr reizen.
AÖ: Theater findet live statt und meiner Meinung nach wird im Jahrhundert der fortschreitenden Digitalität die Bedeutung dieses Live-Charakters zunehmen, was sich am deutlichsten in den Happening-Momenten manifestiert. Zumindest geht es mir so, dass ich mir diese Happening-Momente auf der Bühne zunehmend mehr wünsche. Sie bringen Publikum und Performer:innen näher zusammen und erzeugen eine exklusive Gemeinschaft für die Dauer der Performances. Das, was an dem Abend auf der Bühne passiert, wird morgen nicht mehr dasselbe sein.
DT: Warum sollte man sich diese szenische Einrichtung eines „Rucksacks“ nicht entgehen lassen?
RB: Na, an erster Stelle natürlich wegen dieser großartigen und inspirierenden Figur Andreas Egger, in dessen ganzes Leben wir Einblick geben. Der trotz Schicksalsschlägen und Hindernissen es schafft, eine versöhnliche und hingebungsvolle Beziehung zum Leben zu behalten. Und weil das Publikum den Theaterraum anders erfahren wird, als es ihn vielleicht gewohnt ist. Und weil ich mich sehr darauf freue, die Reise durch Eggers Leben mit vielen Menschen gemeinsam zu begehen.
AÖ: Und weil dieser Streifzug durch Eggers Leben mit seinen außergewöhnlich reduzierten Mitteln das Publikum von der großen Wirkung des Theaterzaubers überzeugen kann.
Ein Gespräch über den Entstehungsprozess des Stücks „Die Nacht so groß wie wir“. Regisseurin Eva Kuen und Theaterpädagoge Benni Troi im Interview mit der Dramaturgin Friederike Wrobel.
Friederike Wrobel: Am Theaterpädagogischen Zentrum in Brixen (TPZ) arbeitet ihr seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Ihr habt diverse Theatergruppen mit über 200 Spieler:innen und insgesamt über 20 Produktionen im Jahr. „Die Nacht so groß wie wir” ist die erste Koproduktion mit dem Jugendclub der Vereinigten Bühnen Bozen. Was ist der Unterschied im Vergleich zu euren anderen Inszenierungen?
Benni Troi: Ich denke, dass es sich vor allem durch das ganze „Drumherum” unterscheidet. Allein die stundenmäßige Anzahl an Proben. Wir proben jeden Samstag fünf bis sechs Stunden — mit den Gruppen am TPZ haben wir eineinhalb Stunden pro Woche. So ist es viel intensiver. Auch vom Bühnenbild her ist es ein großer Unterschied. Weil wir so viele Produktionen haben, reduzieren wir das Bühnenbild eher. Manchmal haben wir vier Aufführungen an einem Tag mit vier unterschiedlichen Gruppen im gleichen Raum. Außerdem fand ich es sehr spannend, mit Eva zu arbeiten. Das war irgendwie ganz lustig, die Schnittstelle zwischen dem künstlerischen Teil von Eva und der Arbeitsweise der Jugendlichen zu sein.
Eva Kuen und Benni Troi auf der Probebühne Foto: Benjamin Rosanelli
FW: Und wo ist der Unterschied für dich, Eva, dass du mit Benni die ganze Probenzeit einen Theaterpädagogen an deiner Seite hast, mit dem du die Proben zusammen gestaltest?
Eva Kuen: Ich habe gemerkt, dass es für mich anfangs schwierig war, die richtige Sprache zu finden. Ich spreche so ganz „Theatersprache”, also so, wie wir es im professionellen Theater auf den Proben gewohnt sind zu kommunizieren. Zum Beispiel habe ich viele Anweisungen als Subtexte gegeben, dann aber gemerkt, dass mich die Jugendlichen da manchmal ratlos anschauen. Benni hat das dann übersetzt in etwas anderes, was für die Jugendlichen verständlich war. Da musste ich erst mal reinkommen und sehen, wohin kann ich sie führen und wo hole ich sie ab. Auch durch die Arbeitsaufträge, die die Jugendlichen dann bekommen haben, habe ich gelernt, mehr auszulassen, sodass sie viel selber erarbeiten. Wir haben Input gegeben und die Jugendlichen haben zunächst ihre eigene Improvisation dazu gemacht. Danach habe ich das natürlich geordnet und es manchmal in eine etwas abstraktere Form gebracht. Wichtig ist jedenfalls, dass möglichst viel aus den Jugendlichen selbst herauskommt und man ihnen nichts aufsetzt.
FW: Wie habt ihr konkret mit ihnen das Stück erarbeitet und wo konnten sie sich einbringen?
EK: Am Anfang haben wir erst mal viel Basisarbeit und Bewegungsübungen im Raum gemacht. Benni hat da als Theaterpädagoge ein großes Repertoire. Dann haben wir das Stück gelesen und erst mal entschlüsselt. Das war am Anfang gar nicht so leicht für die Jugendlichen.
BT: Ja, weil mehrere Personen die gleiche Rolle spielen und viele Zeitsprünge im Stück sind. Und das alles zu klären, dass sie auch selber damit etwas anfangen und für sich klar machen können, wie sie das zeigen möchten, das war gut die erste Hälfte des Probenprozesses.
EK: Wenn man Jugendliche improvisieren lässt, dann bebildern sie die Dinge im ersten Moment oft eins zu eins. Das war auch ein Prozess für sie, zu verstehen, wie man bei so einem Stück in die Abstraktion gehen kann und was sie da für Werkzeuge benutzen können. Da wachsen sie immer weiter rein. Das ist sehr spannend.
BT: Das war für mich ein sehr sehenswerter Arbeitsprozess. Am Anfang haben wir viele sehr klare Anweisungen gegeben. Und das ist über den Prozess chaotischer und die Ergebnisse besser mit dem Chaos geworden. Weil sie angefangen haben, selber nachzudenken und sich weniger führen zu lassen, sondern mehr Sachen selber anzubieten, mit denen wir uns dann leichter tun, zu sagen, die Richtung gefällt uns oder in die Richtung kann man mehr oder weniger machen.
EK: Ich finde jedes Theaterstück hat immer eine eigene Temperatur. Die gilt es herauszufinden. Und irgendwann gab es bei den Proben so einen Knackpunkt. Plötzlich haben sie eine ganz andere Energie gefunden.
FW: Könnt ihr ganz kurz sagen, wovon das Stück handelt?
BT: Also für mich geht es im Stück um fünf Freund:innen, die mit ihrer Kindheit abschließen möchten, um irgendwie zusammenbleiben zu können, aber das geht sich nicht für alle aus.
EK: Ja, sie müssen erkennen, dass jeder neue Lebensabschnitt auch ein Abschied ist von etwas und dass man nicht weitergehen kann, ohne was anderes zurückzulassen.
FW: Im Stück geht es genau bei diesem Abschließen der Kindheit darum, dass jede:r sein persönliches Ungeheuer treffen muss. Meint ihr, dass die Spieler:innen auch schon im Probenprozess ein persönliches Ungeheuer überwinden mussten oder sind sie einfach mit Freude dabei?
BT: Also ich glaube, unsere Spieler:innen sind eine ganz eigene Kategorie Mensch. Die sind nicht aufgeregt, die haben kein Stress, die sind einfach „brutal”.
EK: Es gab einmal in der Mitte der ersten intensiven Probenwoche in den Ferien einen kurzen Frustrationsmoment. Alle waren müde, hatten einen vollen Kopf. Und natürlich wäre es angenehm nach einer Improvisation zu hören: „Ja super, so machen wir das!” Aber so läuft das ja nicht beim Proben, sondern man bietet etwas an und dann probiert man nochmal was anderes. Gemeinsam suchen eben. Aber an diesem Punkt ist ihnen dieser Prozess etwas auf die Nerven gegangen und es hat ein wenig geknirscht. Aber letztendlich war das super, weil sie danach einen totalen Sprung gemacht haben. Aus der Frustration heraus haben sie ein paar sehr schöne Szenen mit einer super Energie improvisiert, mit denen wir alle sehr happy waren.
Meine erste Notiz: „Eine Frau kehrt zurück an den Ort eines Verbrechens.“ Am Ende dieser ersten Skizze (November 2021) hatte ich vermerkt: „Ein Gefüge von Wissenden und Verbergenden“.
Rückblende: Die erste Begegnung mit dem See ist ein Film ohne Ton. Ich sitze im Zug, fahre zu einer Theaterprobe. Die Kopfhörer habe ich vergessen. Ich möchte niemanden stören. Also schaue ich mir die Dokumentation über „Das versunkene Dorf“ mit Untertitel an. Ich versinke in den Aufnahmen der Seeoberfläche. Und in den Gesichtern von Menschen, die aus ihrem Leben berichten. Ich höre sie nicht. Aber untersuche ihre Mimik. Alles wird mit zwei unterschiedlichen Augen erzählt: einem lachenden und einem weinenden.
Die Rückfahrt: Mir geht der See nicht mehr aus dem Kopf. Ich skizziere ein zu langes Drama mit zu vielen Figuren an zu vielen Schauplätzen. Keine „Opfererzählung“! Keine Dokumentation des bereits Dokumentierten. Ich verliebe mich in die Geschichte eines Ingenieurs, den es nie gab. Finster schillernd, faustisch verloren, nur zu retten durch eine Lichtgestalt, seinen Assistenten. Der Staudamm soll keine Gefahr sein, sondern eine Vision, die Glück verspricht! Zugleich zögere ich. Was wird aus den realen Biografien? Wie der tatsächlichen Geschichte gerecht werden?
Autor mit Turm, März 2023
Ich rufe Rudi Frey an. Ich sage ihm, mein PROJEKT RESCHENSEE habe sich verändert. Ich hatte ursprünglich vor, „sicher nichts Historisches“ zu schreiben. Nun sitze ich ausschließlich am Historischen. Ich schreibe über die 1920er bis 1960er Jahre in Südtirol. „Eine elendslange Parabel! Es geht um Fortschrittsfanatismus und Krieg.“ Wir verabreden uns in Wien, reden darüber, dass Südtirol ein „sonnenbeschienenes“ Land sei. Dass es wirklich viele Sonnentage gibt. Dass die Schatten nicht verschwinden. Und dass Vieles über Südtirol gesagt ist, aber meistens in Stücken mit Bauernstuben. Ich verlege meine Szenen nach draußen in die Natur.
Sommer 2022, Nationalbibliothek Wien: Ich lese über den Stauseebau. Über politische Eingriffe in ein regionales Gefüge. Über Industriezonen und Bergdörfer. Macht und Ohnmacht. Faschismus, Nationalsozialismus, Widerstand, Opportunismus, „Option“, Flüchtende, Umgesiedelte, Gebliebene, „Außig’wasserte“, Tote, Vergessene. Über Hoffnung und Technik. Wohlstand und Profit. Vision und Wasserkraft. Autonomie und Lügen. Ich merke: Südtirol verstehe ich viel zu wenig.
Ich recherchiere: Es gibt 20 „Südtiroler Plätze“ in Österreich. 2 in Deutschland. Ich verstehe erstmals die Zusammenhänge besser.
Ich lerne, manche sagen „Terroranschlag“, andere „Freiheitskampf“, manche sagen „Europapolitik“, andere „Heimatverrat“. Ich lese von Duce-Verehrung, skurriler Geschichtsvergessenheit, nostalgischer Brauchtumspflege, Denkmaldiskurs und extremem Aktivismus. Ich verwerfe mein Konzept. Das ist alles zu viel!
Wieder eine Zugfahrt: Ich streame alle vier Teile des Filmepos „Verkaufte Heimat“ (Regie: Karin Brandauer/Gernot Friedel, Buch: Felix Mitterer), online abrufbar auf suedtiroler-freiheit.com. Ich versinke in den Leben der Figuren. Fiebere mit. Weine. Lache. Blicke demütig in den Abspann. Und beschließe: Ich bin der falsche Autor für diese Geschichte. Es wurde bereits alles erzählt. Nicht nur in Stücken mit Bauernstuben.
Herbst 2022, am Laptop erneut die Website suedtiroler-freiheit.com: Ich versuche zu verstehen, welches Südtirol hier gemeint ist. Welche Freiheit. Ich frage mich, warum diese Website gerade diese „Mitterer-Geschichte“ als Stream anbietet. Wer bedient sich welcher Geschichte?
Ich überarbeite mein Konzept. Suche nach dem Heute in dem Stauseedrama. Nach Strukturen des Erinnerns. Aus 9 Figuren werden 18. Alle laufen nun mit Schatten rum.
März 2023: Ich fahre zum See, mit einem Mietauto von Innsbruck über den Reschenpass. Aber der See ist nicht da. Das Wasser wurde abgelassen. Ich starre auf den Grund.
In meinem Hotelzimmer in der Hotelmappe die Geschichte des Sees, auf zwei Seiten zusammengefasst. Andere Orte werben mit Schönheit und Idyll. Dieser Ort mit einem geschichtlichen Zeigefinger.
Ich laufe den See ohne See entlang. Ich stelle mir vor, wie früher die Wiesen und Äcker verliefen, wie Kühe weideten, Kinder spielten, ein Flusslauf sichtbar war, Hotels direkt am See lagen, ohne trostloser Umfahrungsstraße, Stege zu Badeplätzen führten und auf dem damaligen Gewässer Ausflugsschiffe die Sommertouristen von Ufer zu Ufer brachten. Der heutige Anblick ist eine monströse Grube. Ich sehe eine Frau mit Hund durch das mondartige Gelände staksen.
Am Turm: Er ist von gefrorenem Wasser umgeben, da hier das Stauseebecken extra vertieft wurde. Er sieht einsam aus. Normalerweise ragt die Kirchturmspitze bizarr aus dem Smaragdblau der eindrucksvoll weiten Seeoberfläche (laut Internetfotos). Vor mir weint der Turm. Dann bleiben einige Autos stehen. Fotos werden gemacht. Schnell setzt der Turm sein Tourismus-Lächeln auf.
Nachts träume ich, in den Turm zu klettern und einen Schatz zu finden. Oder ein Skelett. Oder Nazi-Runen. Oder Widerstands-Kassiber. Oder ein geheimes Paradies vorzufinden, in dem die letzten Pflanzen und Tiere überleben.
In einem Gasthaus esse ich ein „g’schmackiges“ Wildgulasch. Die Speisekarte erzählt erneut die Geschichte des Sees samt Unrecht, „das über die Dörfer kam“.
Im Frühstücksraum meines Hotels zwei deutsche Touristen. Sie fragen, wo meine Ski sind? Ich sage, ich schreibe ein Stück. Sie wussten bislang nichts über die Geschichte des Sees. Sie hoffen, „dass die Pisten gut beschneit sind“. Von herunten sieht alles karg aus. Wieder ein Klimaerwärmungswinter. Was ist der Zukunftsstausee?
Ein Mitarbeiter des Heimatmuseum Obervinschgau führt uns (Elisabeth Thaler, Rudi Frey und mich) versiert durch die Ausstellung. Er kennt Menschen, die „das Drama“ noch persönlich durchleben mussten. Viel Verbitterung! Aber auch Ablehnung. „Die einen klammern sich an die alten Geschichten, die anderen können sie nicht mehr hören.“ Er erklärt, warum das Wasser an diesem Tag weg ist. Ein Leck im Mantel des Druckstollens! „Die Firma“ macht wieder Reparaturen. Im Reden hallt Vergangenheit nach. „Sie geben sich heute viel Mühe, die Firma, aber…“ Mich interessiert das Aber.
Wir erfahren, dass seit Marco Balzanos Bestseller „Ich bleibe hier“ mehr Menschen das Museum besuchen. Das Thema werde nun „auch in Italien“ wahrgenommen. Ich frage, warum er „auch in Italien“ sagt, das hier sei ja alles Italien. Er antwortet rasch: „Ich für meinen Teil bin Südtiroler“. Ich sehe das weinende Auge. Und das lachende. Dazwischen flackern Verwundung und Zorn.
Vor meiner Abreise, ich und die Staumauer: Gewaltig. Gewaltiger als sonst, da ja das Wasser fehlt. Ich sehe Arbeiterinnen und Arbeitern in gelben Westen und mit gelben Helmen bei den Reparaturen im Heute zu. Später parke ich das Auto in Innsbruck. Blicke auf die Alpenkette. Hinter diesen Bergen doch ein anderes Land. Im Zug nach Hause betrachte ich die Fotos meiner Reise. Den See ohne See. Fast nur Ansichten von Furchen und Rissen am Grund.
Nadja Tröster arbeitet freiberuflich als Theaterpädagogin in Südtirol. Im Gespräch mit den Dramaturginnen Friederike Wrobel und Elisabeth Thaler schenkt sie einen Einblick in ihre Arbeit.
Foto: Francesco Ippolito
Elisabeth Thaler: Wie würdest du deine Arbeit kurz beschreiben?
Nadja Tröster: Theaterpädagogik ist ein weites und bewegtes Feld. Man könnte sagen: Wir vermitteln Theater vor allem im nichtprofessionellen Bereich. Je nach Schwerpunkt arbeitet man mit Erwachsenen, mit Freizeitgruppen oder in sozialen Einrichtungen, meistens aber mit Kindern und Jugendlichen. Es geht dabei immer um die Anregung zu einer künstlerisch-theatralen Auseinandersetzung: mit sozialen Themen, mit Literatur, mit sich selbst und grob gesagt: mit der Welt, die uns umgibt. Wir unterrichten Schauspiel, entwickeln eigene Stücke mit Gruppen, trainieren Improvisation oder führen Regie. Aktuell bin ich mit verschiedenen Projekten im Kinder- und Jugendbereich unterwegs, vor allem in den Schulen. Diese Arbeit ist sehr vielseitig. Von kurzen Workshops, über Themenwochen, bis hin zu Jahresarbeiten mit einer Klasse, die ein Theaterstück einstudiert: wir Theaterpädagog:innen eröffnen Räume und begleiten mit unseren ästhetischen, theatralen Methoden.
Friederike Wrobel: Was sind deine Aufgabenbereiche an den Vereinigten Bühnen Bozen?
An den Vereinigten Bühnen Bozen biete ich vor- oder nachbereitend zu ausgewählten Kinder- und Jugendstücken Workshops an Schulen an. Es geht darin um eine spielerische Auseinandersetzung mit dem spezifischen Thema, den Figuren oder dem zentralen Konflikt des Stücks. So können die Schüler:innen gut vorbereitet in die Vorstellung kommen. Wenn es um eine Nachbereitung geht, können sie ihr Verständnis vertiefen und Antworten auf offene Fragen erhalten. Unserem jungen Publikum, das vielleicht noch nicht sehr viel Theatererfahrung gesammelt hat, hilft das, die Besonderheiten des Theaters, die Sprache, eine Inszenierung oder Ästhetik zu verstehen und mit besonderen Aspekten weiter praktisch zu arbeiten.
Ein Herzensprojekt ist für mich auch die Zusammenarbeit mit der Mittelschule Josef von Aufschnaiter, die ja bekanntlich einen Theaterzweig hat. Als Partnerschule der Vereinigten Bühnen Bozen bekommen alle Klassenstufen in jedem Schuljahr besondere Workshops, Theater- und Probenbesuche. Eine weitere, schöne Aufgabe ist die Betreuung des Klassenzimmerstücks, das ich während des ganzen Schuljahres auf Tournee durch die Schulen begleite und ein kleines Ergänzungsprogramm dazu gestalte.
Foto: Francesco Ippolito
Elisabeth Thaler: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller) Wie kann man junge Menschen für das Theater und das Spiel begeistern?
Kinder, eigentlich alle Menschen, bringen von Natur aus das Interesse am Spielen mit. Da setzen wir Theaterpädagog:innen an. Unser Aufgabenfeld umfasst ja auch das Spielen im weitesten Sinn. Wir beginnen unsere Stunden meistens mit den sogenannten „openern“, das sind Spiele zum Ankommen und Alltagablegen. Dann wärmen wir auf, wir sorgen für eine gute Dynamik, wir holen die Gruppe in die Konzentration, öffnen Räume für Wahrnehmung, wir helfen beim „Teambuilding“. Das alles noch bevor es in das klassische Theaterspielen geht. Ich erlebe es in meiner Arbeit täglich, wie Gruppen in voller Freude, konzentriert und vertieft zusammen spielen, zusammen lachen, das ist ein Selbstläufer. Im Spiel taucht man ja in ganz andere Ebenen ein, man darf sich ausprobieren, man darf lachen, man darf scheitern. Man lernt sich selbst und die anderen kennen. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht auch harte Arbeit ist, sich eine Rolle oder ein Stück zu erarbeiten. Die Menschen mit denen wir arbeiten sind schließlich keine professionellen Schauspieler:innen. Theaterarbeit kann sehr anstrengend sein. Am Ende steht aber immer eine Belohnung. Der Applaus ist einfach ein Moment der Begeisterung, der alle Anstrengung vergessen lässt.
Elisabeth Thaler: Wie sieht so ein spielerischer Workshop z.B. beim Klassenzimmerstück „Titus“ aus?
„Titus“ ist ein Monolog, den ein Schauspieler im Klassenzimmer spielt. Ich begleite den Schauspieler, bin bei der Vorstellung auch anwesend und übernehme direkt nach dem Schlussapplaus. Meist beginne ich mit einem kleinen Warm up, um die Jugendlichen kurz in Aktion zu bringen. So können sie loslassen und vom Kopf mehr in den Körper kommen. Danach biete ich eine Übung an, die konkret mit dem Stück zu tun hat, lasse Szenen nachspielen, gehe mit ihnen zum Beispiel der Frage nach, was ein Held ist. Für Titus habe ich mehrere Übungen im Gepäck und entscheide spontan, welche ich in die Klasse gebe, je nachdem wie ich sie während der Vorstellung erlebt habe und was zu ihr passen könnte. Das Stück bietet sehr viele Möglichkeiten für eine Nachbereitung, denn es ist voll mit Geschichten und Momenten, die die Jugendlichen kennen und beschäftigen. Der Protagonist Titus ist ein tragischer Held, er träumt sich in eine Welt von Geschichten und versucht, sich mit viel Phantasie über Wasser zu halten.
Am Ende findet immer noch ein Gespräch mit dem Schauspieler René Dalla Costa statt. Unsere Erfahrung ist aktuell, dass die Zeit immer zu kurz ist, weil sehr viel Interesse und Redebedarf bei den Schüler:innen besteht.
Friederike Wrobel: Beim Stück „Ente, Tod und Tulpe” für Kinder ab 6 Jahren bietest du einen Workshop in den Klassen an. Wie näherst du dich mit den Kindern dem Thema „Tod”?
Das Stück hat Ende November Premiere und die Proben laufen auf Hochtouren, auch die Vorbereitungen für den Workshop in den Grundschulen. Zunächst arbeite ich nahe am Stück, denn ich möchte die Kinder gut auf den Vorstellungsbesuch vorbereiten. Im Stück kommt Tod die Ente besuchen, die irgendwie schon immer gespürt hat, dass ihr jemand nachschleicht. Diese Situation des Nachschleichens und der ersten Begegnung ist ein wunderbarer Ausgangspunkt, um ins Spielen zu kommen. Wir werden uns also die beiden Figuren Ente und Tod herholen und die Kinder spielerisch herausfinden lassen, wer sie sind oder sein könnten. Wie bewegen sie sich, wie sprechen sie, was sagen sie überhaupt und wie könnte eine Begegnung aussehen? Ich nehme die Kinder mit auf eine kleine Raumlauf-Phantasiereise und so erleben sie Szenen des Stücks, die sie auch selbst gestalten dürfen. Bei Tod verweilen wir dann sicher etwas länger, denn da erwarte ich viele unterschiedliche Bilder und Ideen. Der Workshop ist also eine Annäherung an das Thema Tod.
Friederike Wrobel: Wir haben bei „Titus“ und „Ente, Tod und Tulpe“ ernste Themen auf der Bühne. Was ist die Chance an die Theaterpädagogik, sich diesen ernsthaften Themen anzunehmen und mit den Kindern zu bearbeiten?
Die große Kraft liegt in der spielerischen Auseinandersetzung. Es geht erstmal nicht darum, alles zu verstehen, oder den kompletten Überblick zu haben. Die Theaterpädagogik verlangt nicht, dass Kinder einen Test bestehen müssen. Sie werden in der Arbeit natürlich angeleitet und unterstützt, bekommen Hilfestellung, aber sie werden nicht bewertet. Es geht vielmehr darum, in ein Thema hineinzuspüren, auch körperlich, mit Bewegung und Sprache, mit Spielen und Übungen, mit Standbildern, im Schreiben und Präsentieren von Texten, in der Erarbeitung von Figuren und Rollen. Und es gibt so viele Methoden. Für mich ist das, wie vorher schon gesagt, immer wie Forschen. Jede:r hat andere Fragen und kommt zu einem eigenen Ergebnis, das in einem wertfreien Rahmen präsentiert wird. Da kann man voneinander lernen. Und in Bezug auf die ernsten Themen: jede:r geht nur soweit, wie er oder sie gehen kann. Es geht eben darum, eine Erfahrung zu machen, etwas in Bewegung zu bringen.
Elisabeth Thaler: Welche Erfahrungen und Momente bereichern dich persönlich besonders, wenn du mit jungen Menschen arbeitest?
Es ist wunderschön, wenn ich spüre, dass die Kinder mit Freude dabei sind. Ich staune immer wieder, wie sie über sich hinauswachsen. Ich bekomme oft von Lehrer:innen die Rückmeldung, dass sie ihre Klasse oder einzelne Schüler:innen von einer ganz anderen Seite erlebt haben. Manchmal sind dann plötzlich die Underdogs die Helden der Klasse, die sich wunderbar kreativ ausdrücken können, sich zeigen und alle überraschen. Das sind für mich besondere Momente. Ich liebe auch den Moment, wenn es bei einer Gruppe „klick“ macht und alle ganz da sind, mit voller Konzentration, Ernsthaftigkeit und dem Willen, gemeinsam etwas zu schaffen. Und natürlich immer wieder der Moment, in dem der Vorhang aufgeht und es kein Zurück mehr gibt.
Elisabeth Thaler: Muss man als Theaterpädagogin im Innersten ein Kind bleiben?
Unbedingt! Es trifft vielleicht nicht auf alle meine Kolleg:innen zu, aber ich denke, die meisten von uns haben auch schon in der Kindheit und Jugend begonnen, Theater zu spielen. Das sind Erfahrungen, die man nicht mehr verliert, ein großer Schatz. Also definitiv JA, für diesen Beruf braucht man selbst Spielfreude und viel Neugierde, Freude am ästhetischen Schaffen. Wir setzen uns mit jedem Projekt und jedem Stück neu auseinander. Das Schöne dabei ist, immer wieder neue Realitäten und neue Welten zu entdecken, sich darauf einzulassen und zu überlegen, wie man diese kreativ und ästhetisch aufarbeiten kann, um noch tiefer einzutauchen. Und den Menschen, mit denen man arbeitet, dieses große Universum „Theater“ zu vermitteln.
Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als die darstellende Kunst im Theater in Technik und Architektur ihren Zenit erreichte, strebte man die Idee des Totaltheaters an, die der Bauhausleiter Walter Gropius gemeinsam mit Erwin Piscator entwickelte. Das Totaltheater forderte, ganz wie die Architektur die „Zerschlagung der Kiste”. Die aufkommende Technik der Filmprojektion war darüber hinaus dazu gedacht, den Raum aus allen Richtungen „unter Film zu setzen“. Leider konnte das Totaltheater damals aus Kostengründen nicht realisiert werden, aber die Technik und die fortschrittlichen Ideen, die sich um dieses Projekt rankten, kann man heute immer wieder in modernen Musik- und Schauspieltheaterinszenierungen wiederfinden. Aber wenn eine Raumbühne erst einmal in einem normalen Theater im Zuschauerraum aufgebaut ist, dann kann das für den Theateralltag auch eine Belastung darstellen. Denn ein Theater, das jeden Tag ein anderes Stück auf dem Spielplan hat, wird durch eine Raumbühne blockiert. Die Technik kann so einen Bühnenaufbau im Zuschauerraum nicht an einem Tag abbauen und ein anderes Theaterstück auf der Bühne aufbauen. Das geht nur mit den Bühnenbildern, die herkömmlich für die bestehende Theaterbühne gebaut und geplant wurden; dafür sind unsere Theater konzipiert mit ihren Seiten- und Hinterbühnen, auf denen mehrere Bühnenbilder gelagert werden können. „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann, mit dem die Vereinigten Bühnen Bozen die Spielzeit 2023/2024 eröffnen, wurde vom ukrainischen Bühnen- Kostümbildner und freien Künstler Ivan Bazak gemeinsam mit Regisseur Alexander Charim als Raumbühne konzipiert. Da in unserem Theater ein Theaterstück am Stück gespielt wird, also auch keine Umbauten während dieser Zeit nötig sind, können wir uns so eine aufwendige Bühnenkonstruktion mit all ihren Vorzügen leisten. Bazak hat sich als Sujet für die Bühne den genuinen Zuschauerraum unseres Stadttheaters vorgenommen, den er skurril und surreal verzerrt darin widerspiegelt, so wie aus der Perspektive eines Fiebertraums, den die Hauptfigur Gustav von Aschenbach am Beginn der Novelle durchlebt. Als Publikum werden Sie sich in diesem Setting auf der eigentlichen Theaterbühne wiederfinden und sich der Raumbühne im Zuschauerraum gegenübersehen. Das Haydn Orchester von Bozen und Trient wird nicht versteckt im Orchestergraben sitzen und musizieren, sondern gemeinsam mit den Darsteller:innen dieses Totaltheater bespielen und beschallen. Die Musiker:innen werden sich dabei auch in diesem Raum bewegen als Fernorchester aus dem Theaterfoyer zu hören sein und schließlich im Zuschauerraum auftreten. Zudem hat diese besondere Bühnenform einen ganz klaren und schönen Vorteil im Gegensatz zu unseren herkömmlichen Bühnensituationen mit ihren Logen und Rängen: Sie ist so demokratisch, wie die Griechen einst in ihren Amphitheatern das Theater erfunden haben. Diesen Vorteil hat auch der Kassler Staatstheaterintendant Florian Lutz für sich wiederentdeckt, als er Intendant der Oper in Halle war, um der politischen Situation in den neuen Bundesländern im Theater eine neue demokratische Basis zu bieten, die es uns Zuschauer:innen ermöglicht, wieder auf einer Ebene ins Gespräch kommen zu können. So erzeugt das Totaltheater auf der einen Seite, dass das Gesamtkunstwerk der Bühnenkunst sichtbar wird und dass wir Zuschauer:innen Teil des Ganzen sind und im Streben nach Überwältigung gleichzeitig demokratisch-kritische Reflexion, Jammer und Schauder bis hin zur Reinigung erfahren können.
LIEBES PUBLIKUM, wir sind die Vereinigten Bühnen Bozen. In den mehr als dreißig Jahren unseres Bestehens haben wir uns zu einem starken, selbstbewussten Teilnehmer in der Mitte der vielseitigen Kulturlandschaft Südtirols entwickelt. Der Wechsel der Intendanz in der neuen Spielzeit soll einen weiteren Meilenstein in unserer Geschichte markieren und wir möchten uns als lebendiger, gemeinsamer Ort der sinnlichen Auseinandersetzung mit Bekanntem und Unbekanntem positionieren. Begeben Sie sich mit uns auf diese Reise! Judith Gögele, Präsidentin
Wie können wir der komplexen Gegenwart und ihren Fragestellungen nahbar begegnen? Welche Rolle spielen die berührenden Themen und Menschen unseres zeitgenössischen Lebens auf der Bühne des Theaters? Welchen künstlerischen Formen können wir als Theater in und für Südtirol einen Raum zur einzigartigen Entfaltung geben? Ich möchte Ihnen in diesem Spielzeitheft die außergewöhnlichen Projekte, mein begeistertes Team und die mitreißenden regionalen und internationalen Künstler:innen, die ich mit diesen Fragestellungen betraue, vorstellen. Ich hoffe, Sie oft bei uns im Theater begrüßen, unterhalten, herausfordern und inspirieren zu dürfen. Auf die Begegnung mit Ihnen freue ich mich!