Elisabeth Thaler: Was hat Dich veranlasst, Deinen Roman in der Optionszeit zu verankern und das Thema der NS-„Euthanasie“ an Südtiroler Kindern miteinzubeziehen?
Sepp Mall: Ich bin da irgendwie reingerutscht in diese Themen. Natürlich hat mich als Schriftsteller immer schon das Einwirken von Geschichte auf den Einzelnen interessiert. Und dann waren da Zufälle: In der Vorbereitung auf den Roman bin ich u. a. auf zwei Bücher gestoßen – Josef Feichtingers „Flucht zurück. Eine Auswandererkindheit“, in welchem er seine persönlichen Erinnerungen an die Option niedergeschrieben hat, und „Agnes, Ida, Max und die anderen“, eine Sammlung von Aufsätzen zur NS-Kinder-„Euthanasie“ in Südtirol. Die Schicksale, die hier dokumentiert bzw. erzählt werden, haben mich mich bewegt, auch schockiert – und letztlich war das wohl der Anlass, mich literarisch damit zu beschäftigen, also „meine“ Geschichte dazu zu erzählen.
Die Themen des Romans (Heimatverlust, Abschied, Sprachlosigkeit …) weisen über die Historie hinaus und schlagen eine Brücke ins Heute. Welche Denkanstöße wolltest Du in Bewegung setzen?
Ich habe beim Schreiben immer wieder daran denken müssen, dass vieles, was die „Optanten“ erlebt haben, sich heute überall auf der Welt wiederholt. Stichwort „Migration“. Auch viele der heutigen „Wanderer“ werden das Leid des Abschiednehmens erfahren so wie Ludi im Roman, genauso Skepsis und Ablehnung an den Orten, wo sie hinkommen. Auch die Versuche, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden und die oft unerfüllbaren Träume von einem besseren Leben, all das wiederholt sich auf die eine oder andere Weise.
Foto: Minitta Kandlbauer
Das Buch ist aus der Perspektive des Kindes Ludi erzählt. Warum hast Du diese Erzählweise gewählt und welche Freiheiten hat sie Dir geschenkt?
Freiheiten, durchaus! Die „naive“, kindliche Darstellung der Umstände, des Krieges, der Brutalität und der vielen Abschiede im Zuge der Umsiedlung schien mir direkter und auch emotionaler als eine erwachsene, informierte Erzählung, somit vielleicht nachvollziehbarer. Zudem ergeben sich aus dem Nichtwissen oder Halbwissen des Kindes viele erzählerische Leerstellen, die Leserinnen und Leser mit ihren Kenntnissen oder Vermutungen füllen müssen. Ich habe also einiges an Interpretation anderen zuschieben können – etwa den Umgang mit ideologisierten Begriffen wie „Heimaterde“ oder die Geschichte mit dem „deutschen Blut“.
„Ein Hund kam in die Küche“ ist ein Baustein der Südtiroler Erinnerungskultur. Was bedeutet Dir Erinnerung?
Erinnerung ist einer der wichtigsten Grundlagen für das Handeln von uns allen. Nur aus der Erinnerung heraus, aus der persönlichen Erfahrung oder der kollektiven Erinnerung heraus verstehen wir, wer wir sind, was wir tun oder lassen sollen. Sie konstituiert in entscheidender Weise eine Persönlichkeit oder das Wesen eines Kollektivs. Keine Erinnerung zu haben an gestern, an die eigene Herkunft und im übertragenen Sinne an die Geschichte deiner Region, das hieße, keinen Boden unter den Füßen zu haben. Aber weil Erinnerung und die Bewahrung derselben oft auch trügerisch ist, wird halt alles etwas komplizierter…
Der liebenswerte Elwood hängt mit seinem besten Freund Harvey gerne in seiner Lieblingskneipe ab. Das Problem dabei: Harvey ist ein zwei Meter großer Hase, der von anderen nicht gesehen wird. Das sorgt vor allem in Elwoods Familie, die um ihren guten Ruf besorgt ist, für zahlreiche Turbulenzen. Das Stück von Mary Chase war in den 1940er-Jahren ein großer Broadway-Erfolg, die Verfilmung mit James Stewart wurde zum Klassiker.
Warum bringt dieser Elwood die Menschen um sich herum so aus der Fassung?
Marcel Heuperman:Alles, was nicht der Norm entspricht, macht uns nervös. Wir sehnen uns als Menschen nach Sicherheiten. Gerade in schwierigen Zeiten gibt es ein wahnsinniges Bedürfnis nach festen Strukturen. Da ist diese Komödie ein wunderbares Plädoyer, ein Stück zur Seite zu gehen und zu fragen: Was sagt es über uns aus, dass uns dieser sympathische Elwood wahnsinnig macht?
Elwood und Harvey als Sinnbilder für die Gesellschaft?
Heuperman: Harvey ist ein Sinnbild für eine Leerstelle in der Gesellschaft und das ist ein spannender Kniff im Stück. Wir werden auf humorvolle Art und Weise permanent darauf hingewiesen, genau hinzuschauen, keine vorschnellen Urteile zu fällen und offen zu sein für das Andersartige.
Wie inszeniert man eine Leerstelle?
Mira Stadler: Indem man eine große Not in den anderen Figuren erzeugt. Denn Elwood hat diese Not nicht. Das ist das Einzigartige an dieser Komödie: Nicht die Hauptfigur befindet sich in einem Konflikt, sondern die anderen.
Und wie spielt man eine Leerstelle?
Heuperman: Man muss ganz genau wissen, was dieser nicht vorhandene Harvey gerade macht, wo er sitzt, wo er hinschaut. Ich musste quasi parallel eine zweite Figur mitentwickeln, denn nur, wenn ich entsprechend reagiere, sehen das auch die Zuschauer. Das ist eine wahnsinnige Herausforderung und im besten Sinne analoges Theater, denn nur durch die Kraft des Schauspiels entsteht die Titelfigur des Stückes.
Und wer ist in dem Stück nun das, was man gemeinhin normal nennt?
Heuperman: Wer definiert, was normal ist und was nicht normal ist? Ich weiß auch nicht, was die größere Beleidigung oder das größere Kompliment ist. Das sind jedenfalls alles Bewertungen von außen. Dieser Elwood hat eine gewisse Magie. Er hört wirklich zu, ist interessiert am Gegenüber. Darum geht es ja, sich wirklich zu begegnen, jeden Moment zu genießen, zu entschleunigen. Das zeichnet diese Figur aus. (…)
Dramaturg Daniel Theuring interviewte die erfolgreiche Südtiroler Theaterautorin Anna Gschnitzer vorab.
Daniel Theuring: Liebe Anna. Als ich „Capri“ und „Die Entführung der Amygdala“ von dir zwischen die Finger bekam, da musste ich diese beiden Monologe auf einen Schlag durchlesen und man hat mich immer wieder amüsierte Äußerungen dabei machen hören. Das ist eine Qualität, die ich leider nicht so oft auf den Tisch bekomme. Gleichwohl hast Du damit ein großes Fass angestochen. Gender Care Gap und Auflösung des Patriarchats, das sind große, topaktuelle Brocken. Wie kamst du darauf?
Anna Gschnitzer: Ich schreibe häufig über Themen, die mich selbst betreffen. Auch wenn meine Texte nicht autobiografisch sind, behandeln sie meist Stoffe, die ich in meinem Umfeld beobachte. Vor vier Jahren wurde ich Mutter, und mein Leben – vor allem meine Perspektive darauf, wie wir uns als Gesellschaft umeinander kümmern – hat sich schlagartig verändert. Besonders wurde mir bewusst, wie sehr ich patriarchale Strukturen verinnerlicht hatte und wie stark ich beruflichen Erfolg und Karriere mit Emanzipation und Empowerment gleichsetzte. Doch dass dabei kein Raum für Sorgearbeit und Verletzlichkeit bleibt, kann man nicht lange ignorieren, wenn man Mutter wird.
Lange habe ich dem Karriere-Feminismus geglaubt, dass man „alles haben kann“ – solange man nur emanzipiert, solange man nur empowert genug ist. Im Grunde ist das die alte neoliberale Leier: Wenn man nur hart genug arbeitet, klappt es schon. Doch die Realität sieht anders aus. Kein Individuum, keine noch so gleichberechtigt gelebte Elternschaft kann allein gegen Strukturen ankommen, die Care-Arbeit systematisch abwerten. Die viel gepriesene „Vereinbarkeit“ von Beruf – und allem, was damit verbunden ist: finanzielle Unabhängigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Selbstwirksamkeit – und Care-Arbeit bleibt eine Illusion, weil Letztere in unserer Gesellschaft keine echte Wertschätzung erfährt.
Ich habe verstanden, dass es eine grundlegende Veränderung braucht – eine, die nicht (nur) beim Individuum ansetzt, sondern bei unserem gesellschaftlichen Umgang mit Verletzlichkeit. Denn als sorgebedürftige Wesen sind wir alle aufeinander angewiesen.
DT: Und warum in dieser Form und Struktur?
AG: Ich wollte einen Monolog schreiben, weil ich durchspielen wollte, wie ein Individuum vor vielen Menschen (dem Publikum) steht und eine direkte Beziehung zu ihnen eingeht. Dabei macht sich diese Person extrem verletzlich und riskiert alles.
Am Ende bleibt offen, wie das Publikum mit dieser Verletzlichkeit umgeht – ob es vielleicht den Transfer zur eigenen Verletzlichkeit und Verantwortung schafft. Ich wollte die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Struktur und Individuum wie in einer kleinen Versuchsanordnung für einen Theaterabend denken, dessen Ausgang offen bleibt.
DT: Da wir alle von einer Jahrtausende alten patriarchalen Gesellschaft gelehrt, geformt und geprägt wurden, liegt die Chance für Feminismus und die Auflösung des Patriarchats wirklich in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in der Familie und vor allem in der heteronormativen Beziehung, aus der Kinder hervorgegangen sind?
AG: Mit der Zementierung der heteronormativen Kleinfamilie als einzige mögliche Organisationsform sozialer Gemeinschaft wurde Care-Arbeit entwertet, privatisiert und vor allem als unbezahlte Aufgabe Frauen überlassen. Dies geschah unter der Prämisse des Patriarchats, dass Frauen „von Natur aus“ – also aufgrund zugeschriebener biologischer Merkmale – dazu bestimmt seien, sich um andere zu kümmern. Ich glaube also, um das Patriarchat zu überwinden, müssen wir bei der Kernfamilie ansetzten.
Ich halte es deshalb für essenziell zu verstehen, warum die Kleinfamilie in ihrer Struktur und ihrem Kern problematisch ist. Gleichzeitig lebe ich selbst in diesem Modell und frage mich, wie ich Familie so verändern kann, dass sie ihre patriarchalen Strukturen sprengt. Falls ich herausfinde, wie das geht, melde ich mich nochmal 😉
DT: Ist die Amygdala patriarchal?
AG: Ich habe mich mit diesem Teil des Gehirns beschäftigt, weil Studien gezeigt haben, dass die Amygdala auf ihr Umfeld reagiert und sich entsprechend verändert – insbesondere durch die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen, etwa für ein anderes Lebewesen. Der Körper passt sich den Aufgaben an, die ihm zugeteilt werden. Eine „natürliche“ biologische Veranlagung gibt es in diesem Sinne also nicht.
Ich fand es spannend, wie sich Sozialisation in den Körper einschreibt – und dass es sich dabei um etwas handelt, das veränderbar ist.
DT: Siehst du dich als Feministin?
AG: Ja.
DT: Frauen und FLINTA- Personen leiden in erster Linie an diesen Missständen, aber auch Männer werden im Unternehmens- und Arbeitsalltag leider immer wieder davon unter Druck gesetzt. Die toxischen patriarchalen Strukturen sind dabei ein ganzheitliches Problem unserer Gesellschaft, die leider sogar allzu gerne von Menschen, die selbst durch ihre Veranlagung an die Ränder unseres Miteinander gedrängt werden, bedient werden. Nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern leider auch in kulturellen Bereichen wie dem Theater. Wie können wir das überwinden?
AG: Indem wir uns mit anderen Menschen verbinden, denen es ähnlich geht, aber auch Allianzen mit jenen schmieden, die an anderen Stellen kämpfen. Indem wir viel zuhören, Raum geben und überlegen, wie sich alle an der Diskussion beteiligen können – auch wenn das bedeutet, selbst erst einmal nichts zu sagen.
Als Gesellschaft können wir nur durch Solidarität etwas bewirken. Wir müssen verstehen, dass, selbst wenn uns ein Thema persönlich nicht betrifft, wir letztlich alle von einer gleichberechtigten Gesellschaft profitieren.
DT: Yael Ronen behauptet in ihrem Werk „Slippery Slope“ über das Patriarchat: „Once you see it, you can’t unsee it”. Glaubst du mit “Die Entführung der Amygdala” auch hierfür sensibilisieren zu können?
AG: Das wäre schön. Das Stück wurde bereits an zwei anderen Theaterhäusern inszeniert, und bei den Vorstellungen sowie den Nachgesprächen waren viele Frauen und Mütter anwesend. Da fielen oft Sätze wie: „Ich werde meiner Mutter, Tochter, Freundin etc. von diesem Stück erzählen – sie muss es unbedingt sehen.“
Ich glaube, genau dieses Moment – das Wiedererkennen der eigenen Geschichte oder von Teilen davon auf der Bühne und das Gefühl, dass diese Geschichte auch von anderen gesehen wird – kann viel bewirken. Es kann Kräfte freisetzen, aber vor allem verdeutlichen, dass es sich nicht um ein individuelles Schicksal handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Und genau das macht es leichter, sich weniger allein zu fühlen, in Verbindung zu kommen, in die Solidarität, die Kraft.
DT: Ich glaube, dass der erste Schritt Reflexion sein muss. Habe ich Diskriminierung erfahren oder bin ich durch ein Erlebnis für patriarchale Strukturen sensibilisiert worden und kann ich sie benennen, dann kann ich lernen, damit umzugehen. Wie der Fisch im Wasser, der sich des Wassers bewusst ist. Oder?
AG: Ja, genau. Je mehr wir uns bewusst werden an welchen Stellen wir vielleicht Dinge reproduzieren, die wir eigentlich ablehnen, oder die uns selbst schaden, desto öfter gelingt es uns auch anders zu handeln, uns bewusst zu entscheiden und uns dadruch mit anderen zu verbinden.
DT: Ich wünsche mir für unsere Zukunft, dass wir diese toxischen Verhaltensweisen endlich ablegen, verlernen können, um tolerant und frei von Vorurteilen friedlich miteinander leben können. Oder meinst du, das ist zu kurz gedacht?
AG: Ich glaube an Utopien – und daran, dass sie scheitern dürfen. Denn gerade ihr Scheitern ist der Grund, warum wir immer weiter an ihnen arbeiten müssen. Je weiter eine Utopie entfernt scheint, desto mehr müssen wir an sie glauben.
DT: Was schlägst du vor?
AG: Sich kurz auf den Boden zu legen, das beruhigt das Nervensystem.
Michael Peintner aus dem Bereich sexuelle Bildung und Psychotherapie / Sexualtherapie hat als vorbereitende Maßnahme des Musicals RENT von Jonathan Larson dieser Produktion einen Workshop für die richtige Einordnung von HIV und AIDS und sexueller Gesundheit abgehalten. Im Musical RENT geht es um junge Künstler:innen Bohemiens im New York Mitte der 90er Jahre, die durch HIV / AIDS, Gentrifizierung, Drogen und Obdachlosigkeit bedroht werden. Damit alle im Probenprozess vom gleichen Wissensstand ausgehen können, hat Michael Peintner eindrucksvoll und interessant alle Vorurteile, Stigmatisierungen und Fehlinformationen auf diesem Bereich für uns alle klären können. Dramaturg Daniel Theuring nutzte daher die Chance, ein Interview mit ihm zum selben Thema für Sie zu führen, denn auch Sie, liebes Publikum sollen von dieser spannenden und ganzheitlichen Aufklärung profitieren dürfen.
Daniel Theuring: Lieber Michael Peintner, du hast dich der sexuellen Bildung -dazu gehört auch Aufklärung zur sexuellen Gesundheit- und Psychotherapie verschrieben. Wie kam es dazu?
Michael Peintner: Ich habe mich schon sehr früh -v.a. aus persönlichen Gründen- mit dem Thema „Sexualität“ auseinandergesetzt, da ich bereits in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter merkte, dass ich mich als „anders“ wahrgenommen hatte, gelernte Normen sich nicht stimmig anfühlten und ich nicht heteronormativ leben konnte/wollte. Nichtsdestotrotz oder vor allem deswegen hatte und habe ich für mich immer schon einen positiven Zugang zu meiner Sexualität gefunden und zwar jenseits von heteronormativen Konstrukten. Somit habe ich mich in den Bereichen sexuelle Bildung und Psychotherapie/Sexualtherapie qualifiziert, um andere Menschen aller Altersgruppen, Orientierungen und Identitäten wertschätzend, achtsam und respektvoll zu begleiten, damit sie ihren Weg zu einer selbstbestimmten, gesunden und stimmigen Sexualität finden können.
DT: Es gibt ja nicht nur HIV, wodurch viele Menschen stigmatisiert und diskriminiert wurden und immer noch werden, sondern auch eine ganze Reihe von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Was kursiert denn da alles so noch und wie wirkt sich das aus?
MP: Alle sexuell übertragbaren Krankheiten werden zusammengefasst unter den Fachbegriffen STI (sexually transmitted infections) oder STD (sexually transmitted deseases). Am meisten kursieren Lues (Syphillis), Gonorroeh (Tripper), Chlamydien, Kondylome (Feigwarzen), Herpes genitalis und Filzläuse. Im Unterschied zu HIV sind diese alle heilbar (meistens mit Antibiotika), sofern die Erreger rechtzeitig erkannt werden.
Auch HPV (humanes Papillomvirus), Hepatitis B und C sind nicht selten. Bei rechtzeitiger Diagnose sind auch diese heilbar. Gegen HPV und Hepatitis B schützt ebenfalls eine Impfung.
DT: Was ist der Unterschied zwischen HIV und AIDS? Wann, warum und wie hat uns diese Pandemie erfasst?
MP: HIV (Human Immunodeficiency Virus; zu deutsch: humanes Immundefizienz-Virus) ist der Erreger, der die Krankheit AIDS (Acquired Immuno Deficiency Syndrome, zu deutsch: erworbenes Immunschwächesyndrom) auslösen kann. Das bedeutet, dass ein Mensch, der eine HIV-Infektion hat, noch nicht automatisch die Krankheit AIDS hat. Aber wenn eine HIV-Infektion unentdeckt und/oder unbehandelt bleibt, dann entsteht in den meisten Fällen die Krankheit AIDS, die das Immunsystem angreift und schwächt.
HIV wurde 1983 erstmals von französischen Virolog:innen isoliert. Aber bereits im Jahre 1981 sind v.a. in den USA seltsame Lungenentzündungen mit Anschwellen der Lymphknoten aufgetreten. Das Virus hat sich dann sehr schnell weltweit verbreitet und die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in der Konsequenz bereits in den 1980er Jahren die AIDS-Pandemie ausgerufen, in der wir offiziell immer noch sind.
DT: Leider hält sich das Vorurteil hartnäckig, dass es sich bei HIV und AIDS um eine „Schwulenseuche“ handle. Warum?
MP: Die ersten HIV-Infektionen in den USA (und später auch bei uns) betrafen v.a. Männer, die Sex mit anderen Männern hatten. Da damals (und teilweise noch heute) v.a. in den USA -angefeuert durch verschiedene klerikale fundamentalistische Gruppierungen- eine massive homophobe Gesellschaft vorherrschte, wurde dort ein weiterer „Grund“ gefunden, um gegen schwule Männer zu hetzen. Und der extrem abwertende diskriminierende Begriff „Schwulenseuche“ war geboren. Zum Glück findet sich dieser Begriff in den west-, mittel- und nordeuropäischen Ländern fast überhaupt nicht mehr. Wir wissen ja mittlerweile, welche unterschiedlichen Infektionswege es gibt. Und neben Männern, die Sex mit Männern haben, gibt es ja auch noch andere Risikogruppen, wie z.B. suchtabhängige Menschen, die unsterile Spritzen benutzen. Und ich spreche bewusst NICHT von schwulen Männern als Risikogruppe, sondern von Männern, die Sex mit Männern haben. Das ist nämlich nicht das gleiche: Männer, die grundsätzlich romantisch und/oder sexuell heterosexuell leben (und sich nicht als „schwul/homosexuell/gleichgeschlechtlich orientiert“ definieren) können (ab und zu) Sex mit anderen Männern haben und gehören somit zur Risikogruppe.
DT: Wie kann HIV in der aktuellen Zeit am meisten übertragen werden?
MP: Da muss noch unterschieden werden, von welcher geographischen Zone wir reden. In der EU sowie USA und Kanada erfolgen die meisten Infektionen durch Geschlechtsverkehr, v.a. bei Männern, die Sex mit anderen Männern haben. In Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken wird HIV neben den sexuellen Übertragungswegen noch vermehrt durch unsterile Spritzen übertragen. Auch in den dortigen Gefängnissen ist HIV weit verbreitet. In diesen Ländern ist aber HIV/AIDS teilweise noch stark tabuisiert und es fehlt an flächendeckenden Aufklärungskampagnen. In Afrika ist die gesamte Bevölkerung quer über alle Altersgruppen (auch Kinder) und soziale Schichten von HIV-Infektionen betroffen. Das liegt einerseits an mangelnder Aufklärung und andererseits an fehlender bzw. unzureichender medizinischer Versorgung.
DT: Das Musical RENT von Jonathan Larson wurde 1996 uraufgeführt. Larson zeigt darin eine WG von Künstler:innen, die sich als Bohemiens verstehen, die durch HIV/AIDS, Drogenabhängigkeit und Geldnöte bedroht werden. Der/die Zuschauer:in begleitet sie genau ein Jahr und erlebt mit, wie einige davon dieses Jahr nicht überleben. Larson hat es sehr belastet, dass einige seiner Freund:innen auch an AIDS gestorben sind, was ihn dazu veranlasst hat, RENT zu schreiben. So wie ich dich bei unserem produktionsvorbereitenden Workshop „HIV/AIDS – damals und heute“ verstanden habe, war 1996 auch das Jahr, in dem sich das grundlegend geändert hat. Warum?
MP: Bis 1996 sind Menschen mit HIV an den Folgen von AIDS gestorben, weil nur Symptome behandelt, aber nicht das Virus selbst bekämpft werden konnte. 1996 kam es zu einer deutlichen Zäsur: Es wurde die sog. antiretrovirale Therapie entdeckt. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus 2-3 verschiedenen Medikamenten, die tagtäglich eingenommen werden müssen. Das Virus kann damit zwar nicht getötet, aber es kann soweit in Schach gehalten werden, dass es sich im Körper nicht mehr ausbreiten kann. Das HI-Virus schlummert sozusagen im Körper und ist nicht aktiv. Seit 2020 können sich HIV-infizierte Menschen anstatt der Tabletten auch für 2 Spritzen entscheiden, die alle 2 Monate im Gesäßmuskel vom medizinischen Personal verabreicht werden.
DT: Wie kann ich mich heute vor einer Infektion mit HIV schützen?
MP: Zum einen schützt die korrekte Verwendung des Kondoms vor einer HIV-Infektion. Seit 2016 gibt es für Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko die PrEP (Präexpositionsprophylaxe). Am sichersten ist die tägliche Einnahme dieses Medikamentes, das vor einer HIV-Infektion schützt, nicht aber vor den anderen sexuell übertragbaren Krankheiten.
DT: Wie sollen in der heutigen Zeit Präventionskampagnen gestaltet werden, um Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu reduzieren?
MP: Die aktuellen Präventionskampagnen haben das Ziel, ALLE Menschen anzusprechen (unabhängig von der sexuellen/romantischen Orientierung) und ebenfalls zu ALLEN sexuell übertragbaren Krankheiten zu informieren. Es geht v.a. darum, die Menschen zu motivieren, sich regelmäßig testen zu lassen. Bei rechtzeitiger Diagnose kann die betroffene Person effizient behandelt und weitere Infektionen durch diese Person können verhindert werden. Auch wenn HIV nicht heilbar ist, können HIV-infizierte Menschen, welche durch eine Therapie eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, andere Personen nicht infizieren. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO gelten Menschen mit einer HIV-Infektion, welche eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, als gesund.
Elisabeth Thaler:Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform?
Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.
Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt?
Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht…
Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“?
Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.
Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern?
Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte.
Magisch, mannigfaltig, groß und grün: Was ist die Transart OASIE noch alles? Hier gibt es Unsinniges, Eigensinniges und Vielsinniges zu entdecken. Wir bewegen uns achtsam und langsam, erkunden gemeinsam einen neuen Ort, der vielleicht bald nicht mehr sein wird … Wenn wir Spuren erspähen, folgen wir ihnen behutsam, lassen uns von ihnen leiten, begleiten und inspirieren: Farben, Formen, Schatten und Muster weisen uns den Weg über ein Gelände, wo Stadt und Natur und Malerei miteinander verschmelzen. Augen auf, Ohren auf, Hände und Füße bewegen sich, die Nase schnüffelt und erforscht alles. Und FLAMINGA ruft laut: Welche Perspektiven verstecken sich in diesem Raum? Hoch, tief oder in der Mitte? Hinten oder vorne? Und wir folgen ihrem Ruf: Aus verschiedenen Blickrichtungen nehmen wir ihn wahr, diesen neuen Raum. Und fragen uns auch: Welche Geschichten mögen hier wohl noch entdeckt werden? Welche Wörter müssen dafür noch gefunden und erfunden werden?
Eltern können mit ihren Kindern am Anfang zusammen teilnehmen, im zweiten Teil warten die Eltern in der Chill-Lounge auf ihre Kinder. Anmeldung vor Ort / info@kidscultureclub.it / Tel. +39 353 446 6954
Ein Gespräch mit der Musikalischen Leiterin Elisa Gogou und der Regisseurin Susanne Lietzow
Elisabeth Thaler: „Die lustige Witwe“ ist deine erste Operetteninszenierung. Was hat dich an diesem Genre gereizt?
Susanne Lietzow: Im ersten Moment hat mich der Verruf des Genres gereizt. Die Operette wurde nach dem Vorbild der Pariser Opéra comique als eigenständige Kunstform erfunden, um der Oper eine freiere Art von Musiktheater entgegenzustellen. Die Aufführungsgeschichte jedoch hat die Operette extrem in ein konservatives Eck gebracht. Es gibt nun viele Bestrebungen, das Genre zu aktualisieren und eine andere Generation von Zuschauer:innen neu dafür zu gewinnen. Das hat mich interessiert. „Die lustige Witwe“ ist zudem eine Komödie, die auch einen absurden Zugriff erlaubt, mit einer wunderschönen Liebesgeschichte im Zentrum.
Die Operette wird oft als „leichte Unterhaltung“ angesehen. Was ist die Herausforderung, eine Operette zu dirigieren?
Elisa Gogou: Als Kapellmeister:in ist es absolut notwendig, Operetten zu dirigieren, weil es technisch zu den wichtigsten Aufgaben gehört. Zum Beispiel die Wechsel der Tempi, Übergänge, Auftakte … lernt man nur durch die Operette. Sonst kann man Puccini ecc. nicht begleiten. Einen Walzer zu dirigieren, ist nämlich alles andere als einfach.
Elisa Gogou Foto: Anna Cerrato
„Die lustige Witwe“ wird als 1. Tanzoperette bezeichnet. Was war musikalisch das Neue an diesem Werk?
Elisa Gogou: Lehár war im Genre der Operette ein Anfänger und musste seinen eigenen Stil finden. Es gab Berührungspunkte durch seine Biografie, da er als Violinist in der Kapelle seines Vaters gespielt hat, der wiederum am Theater an der Wien unter Franz von Suppé gespielt hat. Dennoch kannte Lehár als Militärkapellmeister den Walzer nicht sehr gut. Er schaffte es aber, derart kreative und geniale Melodien zu schreiben, die nur mit der „Fledermaus“ zu vergleichen sind. In der „Lustigen Witwe“ unterscheidet er musikalisch zwischen den beiden Regionen. Für Pontevedro schreibt er Mazurka, Polonaise, Kolo. Wenn Hanna Glawari zu den Herren spricht, benutzt sie den Walzer. Für die Franzosen komponiert er Cancan, Galopp, Märsche und den Langsamen Walzer. Mit dieser Operette läutete Lehár eine neue Ära ein. Danach wurden international viele Stücke nach dem Vorbild der „Lustigen Witwe“ geschrieben, doch niemand konnte sie übertreffen.
Lehár ging nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch inhaltlich. Er und seine Librettisten León und Stein sprachen aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an. Das fiktive „Pontevedero“ verweist beispielsweise auf „Montenegro“, die „Damenwahl“ im 1. Finale bezieht sich auf das damals diskutierte allgemeine Wahlrecht. Hanna Glawari gilt als moderne Darstellung einer unabhängigen Frau. Wo trifft dieses Stück auch heute noch den Nerv der Zeit?
Susanne Lietzow: Die Frauenfiguren in der „Lustigen Witwe“ sind von Lehár sehr stark gezeichnet. Dennoch wissen wir alle, dass wir heute frauenpolitisch anders mit diesen Stoffen umgehen müssen, weil sie uninterpretiert auf der Bühne nicht mehr funktionieren. Vor allem muss man die „Altherrenwitze“ eliminieren. Es gibt die wehrhafte Frau im Zentrum, die selbstbewusst um ihre Zukunft kämpft. Es war mir auch ein Anliegen, die Pariser Grisetten nicht als männerbelustigende Hupfdohlen auf die Bühne zu stellen, sondern als Frauen, die sich für dieses Leben bewusst entschieden haben. Diese Umdrehungen sind mir sehr wichtig. Zudem ist es ja auch eine Komödie, und Komödien haben immer einen tieferen Hintergrund und Sinn. Natürlich kann das Spiel mit einer Exilgesellschaft, die zu Hause eine Diktatur erlebt hat und sehr, sehr gerne das demokratische System in Paris mit lebt, als Assoziation ins Jetzt gelesen werden, wo Diktaturen sich wieder ausbreiten und die über Jahre erkämpften Rechte und Freiheiten unserer Gesellschaft wieder angegriffen werden.
Ein humorvoller und gleichzeitig politischer Zugang scheinen gerade bei der Operette oft ein Widerspruch. Wie bringst du beides zusammen?
Susanne Lietzow: Man verstärkt Assoziationen. Als Beispiel nenne ich das Thema „Klassengesellschaft“ in der Beziehung von Hanna und Danilo. Bei uns stammt sie nicht vom Landadel ab, sondern ist ein Dienstmädchen und gehört einem Stand an, der der Liebe zu Danilo völlig im Weg steht. Das Spannende ist, dass sich Hanna komplett darüber hinwegsetzt. In unserer Inszenierung haben wir den beiden eine uneheliche Tochter zur Seite gestellt. Hanna legt großen Wert darauf, dass dieses Mädchen eine so gute Ausbildung bekommt, dass sie auch ohne Mann überleben könnte. Das kann Hanna noch nicht.
Susanne Lietzow Foto: Susanne Lietzow
Wenn wir auf die Liebe schauen, sehen wir verschiedene Liebesgeschichten: die unerfüllte Liebe, die verbotene Liebe, den erotischen Liebeskampf. Spürt man diese Unterschiede auch in der Musik?
Elisa Gogou: In Lehárs Musik geht alles um Erotik und Sinnlichkeit, aber in verschiedenen Facetten. Valencienne ist eine Kokette, das spürt man auch in der Musik, die ihren Charakter beschreibt, ihre Gefühle und Bewegungen. Wenn man die Melodien hört, sieht man Valencienne vor sich, wie sie mit Leichtigkeit und spielerisch mit den Männern umgeht. Das haben die Frauen in dieser Gesellschaft trainiert. Wenn Hanna zu den Männern spricht und ihnen nahekommt, benutzt sie den Langsamen Walzer. Sie hat eine starke Seite und darf entscheiden, wen sie nehmen kann und wen nicht. Beim Duett „Lippen schweigen“ spürt man, dass sich Hanna und Danilo lieben. Es war ihr Schicksal, dass sie sich wiedertreffen und wiederfinden, egal wie ihr Leben inzwischen verlaufen ist. Das Chanson der Grisetten hingegen ist frech. Die Beschreibung der Charaktere ist musikalisch sehr durchsichtig.
Susanne, du hast die Dialoge zum Teil umgeschrieben und aktualisiert. Wie bist du mit dem Text umgegangen?
Susanne Lietzow: Manchmal ist der Text im Original „verplaudert“, manchmal altmodisch und frauenfeindlich. Ich habe versucht, die Sprache frecher und direkter zu nehmen. Sprache ist eine totale Behauptung. Wir spielen Tschechow am Theater und tun so, als ob wir alle Russ:innen wären. Mich hat das Aufeinanderprallen von Franzosen und Slawen in der „Lustigen Witwe“ interessiert, weil es zwei sehr verschiedene Mentalitäten sind, auch sprachlich. Es sind zwei unterschiedliche Melodien. Das fand ich spannend und sehr schön.
Elisa Gogou: Ich finde es auch so toll, dass die Figuren die eigene Sprache benutzen, besonders um zu schimpfen.
Die 20er-Jahre, der „Tanz auf dem Vulkan“, spielen in unserer Inszenierung eine große Rolle. Wo siehst du eine Verbindung zwischen den 20-er Jahren des 20. und den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts?
Susanne Lietzow: Wir haben die Operette zeitlich nicht ins Heute gesetzt, sondern in die 20-er Jahre. Mich berührt diese Zeit, in der nach der großen Verwerfung des 1. Weltkrieges 20 Jahre später wieder ein Weltkrieg möglich war. In den 20-er Jahren erlebten die Menschen eine enorme Aufbruchstimmung in allen Bereichen: für Frauen, für Demokratie … es war eine Zeitenöffnung, die leider nur kurz gedauert hat. Wie war es möglich, nach diesem Gefühl des Aufbruchs so einen Backlash zu veranstalten? Unsere Öffnung heute hat etwas länger angedauert, doch erleben wir zur Zeit leider auch wieder Demokratieverlust, Rückschritt in allen Bereichen. Insofern ist es schön, dass wir auf der Bühne in eine Welt hineinschauen, wo Aufbruchstimmung herrscht.
Elisa, was liebst du an der „Lustigen Witwe“?
Elisa Gogou: Ich liebe die Vielfältigkeit und die Freiheit, die diese Operette zulässt. Die Künstler:innen müssen sich auf der Bühne frei bewegen und singen können. Ich muss als Dirigentin in der Lage sein, das Orchester mitschweben zu lassen. In der „Lustigen Witwe“ ist die Musik so extrovertiert, dass die Sänger:innen die Gefühle spüren, mir in den Graben geben und ich als Mediatorin diese dem Orchester weitergeben muss. Das macht jede Vorstellung spannend und nie langweilig.
Dramaturg Daniel Theuring interviewt seine Kolleg:innen Roman Blumenschein und Ayşe Gülsüm Özelzu der Produktion „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler.
„Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler ist in unserem Spielplan ein von Rudolf Frey getauftes „Rucksackstück“. Nicht weil es im weitesten Sinne um Berg und Tal geht, sondern weil hier ein planerischer Trick angewendet wird. Und der geht so: die Ressource Schauspieler und Regisseur wird aus einem in den Proben befindlichen Stückes akquiriert (Rucksack). In unserem konkreten Fall ging es um „Die treibende Kraft“ als Hauptstück mit einer großen Besetzung, in der nicht immer alle auf den Proben anwesend sein müssen. Diese Freiphasen der einzelnen Schauspieler:innen sind dann als Rahmenzeiten für das Rucksackstück verfügbar, wobei immer dann, wenn das Hauptstück geprobt wird, Teile des Kollektivs in Fassung, Text und szenischer Einrichtung nach Verfügbarkeit daran weiterarbeiten. Eigentlich eine ganz einfache Kalkulation und ein sehr moderner Ansatz, weil sich die klassische hierarchische Arbeit der Regisseur:innen oder szenischen Realisier:innen auf mehrere Schultern verteilt. Unser Kollektiv für „Ein ganzes Leben“ setzt sich aus Roman Blumenschein, Rudolf Frey, Ayşe Özel und mir Daniel Theuring zusammen. Ein weiterer Vorteil dieses Prozederes ist, dass Rudi aus Sicht der Regie Ayşe aus Sicht der Ausstattung Roman aus Sicht des Schauspiels und ich aus Sicht der Dramaturgie natürlich unterschiedlich spiegeln und dabei ein breiter Bereich in der Probenarbeit abgedeckt wird und dass dieses Team insgesamt eine riesige Theatererfahrung eint, die eine Einzelperson niemals haben könnte. Während dieser Probenphase habe ich Ayşe und Roman dazu befragt.
Daniel Theuring: Ich fand die Idee von Rudolf Frey, gemeinsam eine Arbeit zu entwickeln, die wie ein Rucksack funktioniert, großartig und war sehr gespannt darauf. Wie ging es euch mit dieser Idee?
Roman Blumenschein: Den Roman „Ein ganzes Leben“ kenn ich schon lange und als Rudolf Frey mir seine Idee vorgeschlagen hat, war für mich sofort klar, dass ich da anbeißen muss! Wie das mit dem Rucksack genau aussehen würde, konnte ich mir da noch gar nicht so genau vorstellen, lasse mich aber immer gerne auf Experimente ein.
Ayşe Gülsüm Özel: Das Wort „Rucksacktheater“ erweckte gleich mein Interesse, als ich es zum ersten Mal von Rudi zu hören bekam. Es deutet auf eine kleine Dimension hin, gleichzeitig heißt das Stück aber auch „Ein ganzes Leben“. Kombiniert mit dem Wunsch, als Kollektiv zu arbeiten, stellt die Arbeit eine besondere künstlerische Herausforderung dar und eine, die mir großen Spaß macht.
DT: Ihr beide kennt Rudolf Frey schon länger als ich und habt beide schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet, aber auch noch nie in einer kollektiven Einrichtung, oder? Für mich ist es das erste Mal in so einer Konstellation und ich bin begeistert, wie gut das funktioniert. Wie geht es euch damit?
RB: Kollektiv zu arbeiten, ist für mich seit etwa drei Jahren der größte Anreiz in meinem Beruf. In verschiedensten Konstellationen haben wir in Wien Theaterstücke, Hörspiele, Live- Performances und Forschungsprojekte realisiert. Für kollektives Arbeiten am Theater wurden auch schon verschiedene Methoden entwickelt, damit habe ich mich noch gar nicht viel beschäftigt. Für mich bedeutet kollektives Arbeiten, das sich alle auf Augenhöhe begegnen. Regisseur:innen, Spieler:innen, Dramaturg:innen, Bühnenbildner:innen, Musiker:innen, Autor:innen und alle anderen Formen von Künstler:innen, aber auch Techniker:innen, Assistent:innen usw. Die Arbeitsprozesse finden weniger parallel statt, sondern verbinden sich zu einem gemeinsamen. Das Positive daran ist, dass alle mehr Einblick und Verständnis für die kreativen Prozesse der anderen bekommen, was wiederum die Kreativität aller anregt. Und wenn sich niemand hinter einer klar zugeteilten Aufgabe verstecken kann, wird auch von jeder einzelnen Person eine größere Form der Verantwortung für das gesamte Projekt übernommen. Meiner Erfahrung nach klappt kollektiv arbeiten am besten, wenn man sich bereits kennt und mit dem Potenzial aller vertraut ist. Mit dem Dream-Team von „Ein ganzes Leben“ fühle ich mich wirklich sehr beschenkt!
AÖ: Theater ist seinem Wesen nach ein Gesamtkunstwerk, in dem viele Beteiligte mitwirken und jede:r seine Perspektiven einbringt. Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, an dem die kollektive Arbeitsweise passen könnte. 2018 lernte ich das Performance-Kollektiv She She Pop auf einem Festival kennen und nahm an einem mehrtägigen Workshop teil, in dem sie uns vorstellten, was sie als Kollektiv ausmacht und ihre Arbeitsweise vermittelten. Die Stärke und Größe der Gemeinsamkeit ist unbestritten, erfordert aber viel mehr Zeit, Gespräch und Geduld füreinander als in hierarchischen Strukturen. Und das funktioniert, wie Roman auch sagt, am besten, wenn die Beteiligten sich kennen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der alles größer und schneller werden muss, der keinen Raum für nicht erfolgreiche Experimente anbietet. Ich habe mich auch mit dem Konzept „Ayşe X Staatstheater“ von Emre Akal und Antigone Akgün befasst, das für Chancengleichheit und Basisdemokratie im Theater steht, und eine Hypothese entwickelt, wie das Theater dann aussehen würde. Das ist eine tolle Vorstellung und sollte nicht nur Fiktion bleiben. Als Rudi mir unsere erste gemeinsame Arbeit „Dante:Dreams“ anbot, die auch im Kollektiv entstand, stand das Thema für mich bereits im Mittelpunkt und ich bekam so auch die Möglichkeit die Theorien in der Praxis zu betrachten. Die Erfahrung war ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, dass wir nun wieder die Möglichkeit haben, ein weiteres gemeinsames Experiment auf die Beine zu stellen und bin wirklich gespannt, wie gut unser Team mit Daniel, Roman und Rudi zusammenarbeitet.
Teaser: Film IT Südtirol
DT: Roman, ich vermute, dass es für Dich die insgesamt anstrengendste Erfahrung ist, weil Du ja fast immer gleichzeitig auch als Schauspieler in „Die treibende Kraft“ arbeitest. Wie muss man sich das vorstellen?
RB: Da gibt es einerseits die organisatorische Herausforderung, die beiden Dinge unter einen Hut zu bekommen. Anstrengend ist aber vor allem die künstlerische Komponente, da man dauernd auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt und sich nicht mit seiner Kreativität voll und ganz auf eine Sache konzentrieren kann. Ich bin inzwischen von meinem Berufsalltag gewöhnt, dass sich Projekte überschneiden, aber mit so einem Extrem hatte ich es noch nie zu tun. Nach der Premiere von „Die treibende Kraft“ musste ich dann doch eine große Erleichterung feststellen, mich nur mehr auf „Ein ganzes Leben“ konzentrieren zu können.
DT: Ayşe, Du machst normalerweise Bühnen, Kostüme und hast zudem auch noch einen Lehrauftrag an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ist diese Arbeitsweise ein Ansatz mit Zukunftspotenzial?
AÖ: Die Studierenden interessieren sich für das kollektive Arbeiten und wir konzipieren immer wieder Projekte, in denen wir diese Möglichkeit anbieten. Wir betrachten dabei, dass manchmal der Wunsch danach aus einem Pragmatismus entspringt, und das widerspricht sich. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Kollektiv im Vergleich zu Hierarchie mehr Verantwortung bedeutet, mehr Ressourcen braucht und mehr Vertrauen erfordert. Nur dann, wenn wir die Bedingungen anpassen, kann der Ansatz eine Zukunft haben.
DT: Was war euer erster Eindruck vom Stoff „Ein ganzes Leben“?
RB: Ich kannte den Roman schon. Ich kann mich erinnern, dass ich ihn beim ersten Lesen vor ein paar Jahren verschlungen habe und er unmittelbar eine sehr wichtige und tröstliche Komponente in meinem Leben eingenommen hat. Und jetzt bekomme ich mit, dass es sehr vielen Menschen genau so erging. Das finde ich sehr spannend. Der Frage nachzugehen, was genau diese Qualität ausmacht in der Erzählung.
AÖ: Ich hatte das Buch auch in meinem Regal, hatte es aber noch nicht gelesen. Ich habe das Buch geschenkt bekommen, weil ich schon seit vielen Jahren für die Vereinigten Bühnen nach Bozen komme, aber sehr wenig über die Berge und das Leben in den Bergen weiß. Jetzt kenne ich ein ganzes Leben in den Bergen und die Qualität dieses Romans haben mir dieses Leben so präsentiert, dass ich wiederum daraus etwas für mein Leben mitnehmen kann.
DT: Ich habe den Text als sehr inspirierend, schlagfertig, karg und geheimnisvoll zugleich empfunden, gleichzeitig hatte ich allein erst einmal viele Fragen, wie man den wohl in einer performativen und multidisziplinären Art und Weise auf die Bühne bringen kann, ohne dass da nicht die bekannte frontal Vorlesesituation eintritt. Allein hätte ich mir das ehrlich gesagt nur konventionell als szenische Lesung vorstellen können. Unsere gemeinsame Power, den Probenprozess erheblich offener und breiter in allen Bereich werden lassen und das ist eine extrem gute Erfahrung. Wie geht es euch damit?
AÖ: Ja, das ist ein gemeinsames Abenteuer mit offenem Ende auf den Spuren von Andreas Egger. Aber es geht nicht nur darum, seine Geschichte zu erzählen, sondern Andreas Egger erlebbar und spürbar zu machen. Durch diesen Ansatz sind unsere Proben sehr sinnlich geworden und das ist etwas ganz Besonderes.
RB: Ich kenn ja die Arbeiten von Ayşe und Rudolf und ihre oft unkonventionellen Herangehensweisen. Hmm, wie soll ich das beschreiben? Wenn man gefragt wird, ob man einen tollen Text gemeinsam mit so bemerkenswerten Künstler:innen auf eine Bühne stellen will, fühlt sich das an, als würde man als Kind vorm Weihnachtsbaum stehen. Ich liebe solche Abenteuer. Auch weil man nicht weiß, was genau da am Ende rauskommen wird.
DT: Als Dramaturg bin ich in gewisser Weise auch immer verpflichtet, das Werk des Autors zu schützen. Dabei sind Änderungen möglich, aber der Kern und die Struktur sollte dabei nicht neu übersetzt werden, außer es geht um völlig überkommene Vorgänge und Verhaltensweisen, die heute nicht mehr zu vertreten sind. Dann muss man allerdings auch überlegen, ob man den Stoff noch für die Bühne einrichten will und oder warum. Robert Seethaler sagt, dass es ihm gleich ist, was andere Medien, Theater oder Film aus seinem Stoff machen, dass das gelingen und schiefgehen kann, ist ihm bewusst. Aber sein Roman steht deshalb ja trotzdem als Referenz in der Welt und kann dadurch nicht mehr geschmälert werden. Das ist eine sehr liberale und uneitle Haltung für einen Autor, die uns die Freiheit gegeben hat, mit seinem geistigen Eigentum in unserer Fassung für die Bühne frei umgehen zu können. Was bedeutet das für Schauspiel und Ausstattung?
RB: Das ist eine tolle Haltung von Herrn Seethaler! Man nimmt ihm ja nichts weg. Sondern lässt etwas Neues entstehen und generiert dadurch einen universalen künstlerischen Entwicklungsprozess. Für mich als Schauspieler bedeutet das, dass ich den Originaltext nach bühnentauglichem „Material“ analysiere. Was für Figuren gibt es? Gibt es direkte Reden? Welche Schauplätze und Situationen gibt es? So hatten wir alle unsere unterschiedlichen Annäherungen und letztendlich eine, wie ich finde, sehr gute verdichtete Textfassung erstellt.
Foto: Anna Cerrato
AÖ: Jede:r von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass die Verfilmung unseres Lieblingsromans im Kino ganz anders aussah, als wir es uns beim Lesen vorgestellt haben. Vorstellungskraft entsteht aus Wahrnehmungserfahrungen und das ist bei jedem Menschen anders. Es gibt nicht nur einen Andreas Egger, sondern so viele, wie es Menschen gibt, die diese Geschichte erfahren haben, und ich kann nur den einen Egger gestalten, den nur ich kenne.
DT: Es ist schön gemeinsam mit euch dieses Buch auf eine Theaterbühne zu bringen. Wir haben viel gemeinsam erlebt und voneinander profitiert.
AÖ: Egger ist ein Voltron und wir bilden ihn gemeinsam. Wir öffnen uns alle sehr weit und arbeiten eng zusammen, so habe ich die Möglichkeit, eure Herangehensweisen, eure Prozesse mitzuerleben. Das bereichert mich.
DT: Und der Prozess soll nach der Premiere ja auch noch nicht enden. Die Einrichtung soll sich immer weiterentwickeln. Auch eine sehr moderne Methode, die den lebendigen Prozess im Theater vorantreibt.
RB: Darauf bin ich sehr gespannt. Die Idee ist ja, ein paar Elemente in diesem Theatererlebnis zu haben, die nicht berechenbar sind, also immer einen neuen überraschenden Input geben für den weiteren Verlauf der Performance. Oder etwas, das wachsen kann und von Vorstellung zu Vorstellung mehr Form annimmt. Ja, ich glaube, es ist ein zeitgemäßer Ansatz, Theater aus dem abgesicherten Setting von- Publikum sitzt im Zuschauerraum, Vorhang auf Show auf der Bühne, Vorhang zu – mehr zu einem Happening zu entwickeln und dass sich das Publikum mehr einbringen muss und in gewisser Weise Mitgestalter wird. Jedenfalls würde mich das sehr reizen.
AÖ: Theater findet live statt und meiner Meinung nach wird im Jahrhundert der fortschreitenden Digitalität die Bedeutung dieses Live-Charakters zunehmen, was sich am deutlichsten in den Happening-Momenten manifestiert. Zumindest geht es mir so, dass ich mir diese Happening-Momente auf der Bühne zunehmend mehr wünsche. Sie bringen Publikum und Performer:innen näher zusammen und erzeugen eine exklusive Gemeinschaft für die Dauer der Performances. Das, was an dem Abend auf der Bühne passiert, wird morgen nicht mehr dasselbe sein.
DT: Warum sollte man sich diese szenische Einrichtung eines „Rucksacks“ nicht entgehen lassen?
RB: Na, an erster Stelle natürlich wegen dieser großartigen und inspirierenden Figur Andreas Egger, in dessen ganzes Leben wir Einblick geben. Der trotz Schicksalsschlägen und Hindernissen es schafft, eine versöhnliche und hingebungsvolle Beziehung zum Leben zu behalten. Und weil das Publikum den Theaterraum anders erfahren wird, als es ihn vielleicht gewohnt ist. Und weil ich mich sehr darauf freue, die Reise durch Eggers Leben mit vielen Menschen gemeinsam zu begehen.
AÖ: Und weil dieser Streifzug durch Eggers Leben mit seinen außergewöhnlich reduzierten Mitteln das Publikum von der großen Wirkung des Theaterzaubers überzeugen kann.
Ein Gespräch über den Entstehungsprozess des Stücks „Die Nacht so groß wie wir“. Regisseurin Eva Kuen und Theaterpädagoge Benni Troi im Interview mit der Dramaturgin Friederike Wrobel.
Friederike Wrobel: Am Theaterpädagogischen Zentrum in Brixen (TPZ) arbeitet ihr seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Ihr habt diverse Theatergruppen mit über 200 Spieler:innen und insgesamt über 20 Produktionen im Jahr. „Die Nacht so groß wie wir” ist die erste Koproduktion mit dem Jugendclub der Vereinigten Bühnen Bozen. Was ist der Unterschied im Vergleich zu euren anderen Inszenierungen?
Benni Troi: Ich denke, dass es sich vor allem durch das ganze „Drumherum” unterscheidet. Allein die stundenmäßige Anzahl an Proben. Wir proben jeden Samstag fünf bis sechs Stunden — mit den Gruppen am TPZ haben wir eineinhalb Stunden pro Woche. So ist es viel intensiver. Auch vom Bühnenbild her ist es ein großer Unterschied. Weil wir so viele Produktionen haben, reduzieren wir das Bühnenbild eher. Manchmal haben wir vier Aufführungen an einem Tag mit vier unterschiedlichen Gruppen im gleichen Raum. Außerdem fand ich es sehr spannend, mit Eva zu arbeiten. Das war irgendwie ganz lustig, die Schnittstelle zwischen dem künstlerischen Teil von Eva und der Arbeitsweise der Jugendlichen zu sein.
Eva Kuen und Benni Troi auf der Probebühne Foto: Benjamin Rosanelli
FW: Und wo ist der Unterschied für dich, Eva, dass du mit Benni die ganze Probenzeit einen Theaterpädagogen an deiner Seite hast, mit dem du die Proben zusammen gestaltest?
Eva Kuen: Ich habe gemerkt, dass es für mich anfangs schwierig war, die richtige Sprache zu finden. Ich spreche so ganz „Theatersprache”, also so, wie wir es im professionellen Theater auf den Proben gewohnt sind zu kommunizieren. Zum Beispiel habe ich viele Anweisungen als Subtexte gegeben, dann aber gemerkt, dass mich die Jugendlichen da manchmal ratlos anschauen. Benni hat das dann übersetzt in etwas anderes, was für die Jugendlichen verständlich war. Da musste ich erst mal reinkommen und sehen, wohin kann ich sie führen und wo hole ich sie ab. Auch durch die Arbeitsaufträge, die die Jugendlichen dann bekommen haben, habe ich gelernt, mehr auszulassen, sodass sie viel selber erarbeiten. Wir haben Input gegeben und die Jugendlichen haben zunächst ihre eigene Improvisation dazu gemacht. Danach habe ich das natürlich geordnet und es manchmal in eine etwas abstraktere Form gebracht. Wichtig ist jedenfalls, dass möglichst viel aus den Jugendlichen selbst herauskommt und man ihnen nichts aufsetzt.
FW: Wie habt ihr konkret mit ihnen das Stück erarbeitet und wo konnten sie sich einbringen?
EK: Am Anfang haben wir erst mal viel Basisarbeit und Bewegungsübungen im Raum gemacht. Benni hat da als Theaterpädagoge ein großes Repertoire. Dann haben wir das Stück gelesen und erst mal entschlüsselt. Das war am Anfang gar nicht so leicht für die Jugendlichen.
BT: Ja, weil mehrere Personen die gleiche Rolle spielen und viele Zeitsprünge im Stück sind. Und das alles zu klären, dass sie auch selber damit etwas anfangen und für sich klar machen können, wie sie das zeigen möchten, das war gut die erste Hälfte des Probenprozesses.
EK: Wenn man Jugendliche improvisieren lässt, dann bebildern sie die Dinge im ersten Moment oft eins zu eins. Das war auch ein Prozess für sie, zu verstehen, wie man bei so einem Stück in die Abstraktion gehen kann und was sie da für Werkzeuge benutzen können. Da wachsen sie immer weiter rein. Das ist sehr spannend.
BT: Das war für mich ein sehr sehenswerter Arbeitsprozess. Am Anfang haben wir viele sehr klare Anweisungen gegeben. Und das ist über den Prozess chaotischer und die Ergebnisse besser mit dem Chaos geworden. Weil sie angefangen haben, selber nachzudenken und sich weniger führen zu lassen, sondern mehr Sachen selber anzubieten, mit denen wir uns dann leichter tun, zu sagen, die Richtung gefällt uns oder in die Richtung kann man mehr oder weniger machen.
EK: Ich finde jedes Theaterstück hat immer eine eigene Temperatur. Die gilt es herauszufinden. Und irgendwann gab es bei den Proben so einen Knackpunkt. Plötzlich haben sie eine ganz andere Energie gefunden.
FW: Könnt ihr ganz kurz sagen, wovon das Stück handelt?
BT: Also für mich geht es im Stück um fünf Freund:innen, die mit ihrer Kindheit abschließen möchten, um irgendwie zusammenbleiben zu können, aber das geht sich nicht für alle aus.
EK: Ja, sie müssen erkennen, dass jeder neue Lebensabschnitt auch ein Abschied ist von etwas und dass man nicht weitergehen kann, ohne was anderes zurückzulassen.
FW: Im Stück geht es genau bei diesem Abschließen der Kindheit darum, dass jede:r sein persönliches Ungeheuer treffen muss. Meint ihr, dass die Spieler:innen auch schon im Probenprozess ein persönliches Ungeheuer überwinden mussten oder sind sie einfach mit Freude dabei?
BT: Also ich glaube, unsere Spieler:innen sind eine ganz eigene Kategorie Mensch. Die sind nicht aufgeregt, die haben kein Stress, die sind einfach „brutal”.
EK: Es gab einmal in der Mitte der ersten intensiven Probenwoche in den Ferien einen kurzen Frustrationsmoment. Alle waren müde, hatten einen vollen Kopf. Und natürlich wäre es angenehm nach einer Improvisation zu hören: „Ja super, so machen wir das!” Aber so läuft das ja nicht beim Proben, sondern man bietet etwas an und dann probiert man nochmal was anderes. Gemeinsam suchen eben. Aber an diesem Punkt ist ihnen dieser Prozess etwas auf die Nerven gegangen und es hat ein wenig geknirscht. Aber letztendlich war das super, weil sie danach einen totalen Sprung gemacht haben. Aus der Frustration heraus haben sie ein paar sehr schöne Szenen mit einer super Energie improvisiert, mit denen wir alle sehr happy waren.