Alles nur Theater?

Spielzeitpräsentation 2025/26 am 4. Juni im Waaghaus Bozen

„Mit Freude blicken wir auf eine erfolgreiche Spielsaison 2024-25 zurück, in welcher das Team der Vereinigten Bühnen Bozen unter der Intendanz von Rudolf Frey das Theater in einer vielfältigen, innovativen Formensprache zeigte. Die restlos ausverkaufte Eröffnungsproduktion „Die 7 Tage von Mariahaim“ hat bewiesen, dass es die Vereinigten Bühnen Bozen verstehen ein Theatererlebnis auch an alternativen Orten spektakulär greifbar zu machen. Es folgten Stücküberschreibungen klassischer Dramen, progressive zeitgenössische Dramatik, Theater für Kinder und Jugendliche, ikonisches Broadway Musical, sowie zuletzt die begeistert aufgenommene Uraufführung der Romanadaption „Ein Hund kam in die Küche“ von Sepp Mall.  

Der Zuspruch des Publikums lässt sich an einem sehr zufriedenstellenden Gesamtergebnis messen: es ist uns gelungen, eine Steigerung der Besucher:innenzahlen um 28% im Vergleich zur Spielzeit 2023-24 zu erzielen und konnten insgesamt mehr als 16.000 Menschen bei Vorstellungen der Vereinigten Bühnen Bozen begrüßen. Die Zahl der Abonnent:innen konnte konstant auf gesamt 280 Abos gehalten werden, ein Drittel davon ist unter 35 Jahren.“ 

 -Judith Gögele, Präsidentin der Vereinigten Bühnen Bozen 

“Vorhang auf! Unsere Welt befindet sich in einer sogenannten Multikrise – eine sich wechselseitig beeinflussende krisenhafte Weltlage: Kriege, Klimawandel, Wirtschaftslage und ein bedrohlicher Kulturwandel in Teilen der Gesellschaft fordern uns als Kultur- und Theaterschaffende dieser Realität zu begegnen. Alles steht auf dem Spiel: In der neuen Spielzeit 2025/26 sind wir mehr denn je aufgerufen, die uns umgebende Welt mit der Urkraft der künstlerischen Mittel des Theaters auf die Bühne zu übersetzen. Wir öffnen die Tür zu neuen Wahrnehmungsweisen. Mit den vielfältigen Produktionen dieser Spielsaison berühren wir Themengebiete wie: Krise und Selbstfindung, Gesellschaft und Verantwortung, Identität und Traumata der Vergangenheit, sowie Absurdität und Verwirrung der Realität. Shakespeares  “König Lear”, einem der geheimnisvollsten und vielschichtigen Werke der gesamten Theaterliteratur, gibt den Startimpuls für die diesjährige Reihe von packenden, sinnlichen Aufführungen, in denen sowohl zeitgenössische Formen (wie „Blutbuch” – der Sensationserfolg der Literaturwelt der letzten Jahre) als auch die multidisziplinäre Aufbereitung klassischer Titel “Fabian oder Der Gang vor die Hunde” von Erich Kästner gezeigt werden. Der Bogen schließt sich mit “Im weissen Rössl”, einer großen unterhaltsam-musikalischen Hommage an Erik Charell und die Berliner Operette. In den Ensembles auf unseren Bühnen spielen in dieser Saison die herausragenden Kräfte der Südtiroler Theaterlandschaft, wiederkehrende Gäste aus dem deutschsprachigen Ausland, sowie internationale Protagonist:innen mit Bezug zur Region wie Gerti Drassl und Tobias Moretti.” 

-Rudolf Frey, Intendant der Vereinigten Bühnen Bozen 

  Fotos: Luca Guadagnini

FF-Talks „Weitsicht Medien – Wer wird uns in Zukunft informieren?“

in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen

Am 7. Mai 2025 drehte sich bei den FF-Talks im Stadttheater Bozen – in unserem Bühnenbild von „Ein Hund kam in die Küche“ – alles um die Zukunft der Medienlandschaft. Zwischen Algorithmen, Big Tech und journalistischer Verantwortung diskutierten Expert:innen aus Wissenschaft und Medienpraxis, wie sich unser Zugang zu Informationen verändert – und welche Folgen das für unsere Demokratie hat.

Mit einem Impulsreferat eröffnete Prof. Martin Andree („Game Over, Democracy?“) den Abend. Es folgte eine Podiumsdiskussion mit Jannis Brühl (SZ), Esther Mitterstieler (ORF), Hans Karl Peterlini, Uta Rußmann und Martin Andree, moderiert von Verena Pliger (ff). 

Vielen Dank an alle Mitwirkenden und Gäste für die spannenden Einblicke, Denkanstöße und inspirierenden Gespräche beim anschließenden Aperitivo!

Fotos: Live Style Agentur 

„Keine Erinnerung zu haben an gestern, hieße, keinen Boden unter den Füßen zu haben.“

Autor Sepp Mall im Gespräch

Elisabeth Thaler: Was hat Dich veranlasst, Deinen Roman in der Optionszeit zu verankern und das Thema der NS-„Euthanasie“ an Südtiroler Kindern miteinzubeziehen?

Sepp Mall: Ich bin da irgendwie reingerutscht in diese Themen. Natürlich hat mich als Schriftsteller immer schon das Einwirken von Geschichte auf den Einzelnen interessiert. Und dann waren da Zufälle: In der Vorbereitung auf den Roman bin ich u. a. auf zwei Bücher gestoßen – Josef Feichtingers „Flucht zurück. Eine Auswandererkindheit“, in welchem er seine persönlichen Erinnerungen an die Option niedergeschrieben hat, und „Agnes, Ida, Max und die anderen“, eine Sammlung von Aufsätzen zur NS-Kinder-„Euthanasie“ in Südtirol. Die Schicksale, die hier dokumentiert bzw. erzählt werden, haben mich mich bewegt, auch schockiert – und letztlich war das wohl der Anlass, mich literarisch damit zu beschäftigen, also „meine“ Geschichte dazu zu erzählen.

Die Themen des Romans (Heimatverlust, Abschied, Sprachlosigkeit …) weisen über die Historie hinaus und schlagen eine Brücke ins Heute. Welche Denkanstöße wolltest Du in Bewegung setzen?

Ich habe beim Schreiben immer wieder daran denken müssen, dass vieles, was die „Optanten“ erlebt haben, sich heute überall auf der Welt wiederholt. Stichwort „Migration“.  Auch viele der heutigen „Wanderer“ werden das Leid des Abschiednehmens erfahren so wie Ludi im Roman, genauso Skepsis und Ablehnung an den Orten, wo sie hinkommen. Auch die Versuche, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden und die oft unerfüllbaren Träume von einem besseren Leben, all das wiederholt sich auf die eine oder andere Weise.

Foto: Minitta Kandlbauer

Das Buch ist aus der Perspektive des Kindes Ludi erzählt. Warum hast Du diese Erzählweise gewählt und welche Freiheiten hat sie Dir geschenkt?

Freiheiten, durchaus! Die „naive“, kindliche Darstellung der Umstände, des Krieges, der Brutalität und der vielen Abschiede im Zuge der Umsiedlung schien mir direkter und auch emotionaler als eine erwachsene, informierte Erzählung, somit vielleicht nachvollziehbarer. Zudem ergeben sich aus dem Nichtwissen oder Halbwissen des Kindes viele erzählerische Leerstellen, die Leserinnen und Leser mit ihren Kenntnissen oder Vermutungen füllen müssen. Ich habe also einiges an Interpretation anderen zuschieben können – etwa den Umgang mit ideologisierten Begriffen wie „Heimaterde“ oder die Geschichte mit dem „deutschen Blut“.

„Ein Hund kam in die Küche“ ist ein Baustein der Südtiroler Erinnerungskultur. Was bedeutet Dir Erinnerung?

Erinnerung ist einer der wichtigsten Grundlagen für das Handeln von uns allen. Nur aus der Erinnerung heraus, aus der persönlichen Erfahrung oder der kollektiven Erinnerung heraus verstehen wir, wer wir sind, was wir tun oder lassen sollen. Sie konstituiert in entscheidender Weise eine Persönlichkeit oder das Wesen eines Kollektivs. Keine Erinnerung zu haben an gestern, an die eigene Herkunft und im übertragenen Sinne an die Geschichte deiner Region, das hieße, keinen Boden unter den Füßen zu haben. Aber weil Erinnerung und die Bewahrung derselben oft auch trügerisch ist, wird halt alles etwas komplizierter…

Alles, was nicht der Norm entspricht, macht uns nervös

Regisseurin Mira Stadler und Elwood-Darsteller Marcel Heuperman über “Mein Freund Harvey”, “Normalität” und eine Leerstelle (…)

(Marianne Fischer/Kleine Zeitung) 

Der liebenswerte Elwood hängt mit seinem besten Freund Harvey gerne in seiner Lieblingskneipe ab. Das Problem dabei: Harvey ist ein zwei Meter großer Hase, der von anderen nicht gesehen wird. Das sorgt vor allem in Elwoods Familie, die um ihren guten Ruf besorgt ist, für zahlreiche Turbulenzen. Das Stück von Mary Chase war in den 1940er-Jahren ein großer Broadway-Erfolg, die Verfilmung mit James Stewart wurde zum Klassiker.  

Warum bringt dieser Elwood die Menschen um sich herum so aus der Fassung? 

Marcel Heuperman: Alles, was nicht der Norm entspricht, macht uns nervös. Wir sehnen uns als Menschen nach Sicherheiten. Gerade in schwierigen Zeiten gibt es ein wahnsinniges Bedürfnis nach festen Strukturen. Da ist diese Komödie ein wunderbares Plädoyer, ein Stück zur Seite zu gehen und zu fragen: Was sagt es über uns aus, dass uns dieser sympathische Elwood wahnsinnig macht? 

Elwood und Harvey als Sinnbilder für die Gesellschaft? 

Heuperman: Harvey ist ein Sinnbild für eine Leerstelle in der Gesellschaft und das ist ein spannender Kniff im Stück. Wir werden auf humorvolle Art und Weise permanent darauf hingewiesen, genau hinzuschauen, keine vorschnellen Urteile zu fällen und offen zu sein für das Andersartige. 

Wie inszeniert man eine Leerstelle? 

Mira Stadler: Indem man eine große Not in den anderen Figuren erzeugt. Denn Elwood hat diese Not nicht. Das ist das Einzigartige an dieser Komödie: Nicht die Hauptfigur befindet sich in einem Konflikt, sondern die anderen. 

Und wie spielt man eine Leerstelle? 

Heuperman: Man muss ganz genau wissen, was dieser nicht vorhandene Harvey gerade macht, wo er sitzt, wo er hinschaut. Ich musste quasi parallel eine zweite Figur mitentwickeln, denn nur, wenn ich entsprechend reagiere, sehen das auch die Zuschauer. Das ist eine wahnsinnige Herausforderung und im besten Sinne analoges Theater, denn nur durch die Kraft des Schauspiels entsteht die Titelfigur des Stückes. 

Und wer ist in dem Stück nun das, was man gemeinhin normal nennt? 

Heuperman: Wer definiert, was normal ist und was nicht normal ist? Ich weiß auch nicht, was die größere Beleidigung oder das größere Kompliment ist. Das sind jedenfalls alles Bewertungen von außen. Dieser Elwood hat eine gewisse Magie. Er hört wirklich zu, ist interessiert am Gegenüber. Darum geht es ja, sich wirklich zu begegnen, jeden Moment zu genießen, zu entschleunigen. Das zeichnet diese Figur aus. (…) 

Unlearn Patriarchy 

Dramaturg Daniel Theuring interviewte die erfolgreiche Südtiroler Theaterautorin Anna Gschnitzer vorab.

Daniel Theuring: Liebe Anna. Als ich „Capri“ und „Die Entführung der Amygdala“ von dir zwischen die Finger bekam, da musste ich diese beiden Monologe auf einen Schlag durchlesen und man hat mich immer wieder amüsierte Äußerungen dabei machen hören. Das ist eine Qualität, die ich leider nicht so oft auf den Tisch bekomme. Gleichwohl hast Du damit ein großes Fass angestochen. Gender Care Gap und Auflösung des Patriarchats, das sind große, topaktuelle Brocken. Wie kamst du darauf? 

Anna Gschnitzer: Ich schreibe häufig über Themen, die mich selbst betreffen. Auch wenn meine Texte nicht autobiografisch sind, behandeln sie meist Stoffe, die ich in meinem Umfeld beobachte. Vor vier Jahren wurde ich Mutter, und mein Leben – vor allem meine Perspektive darauf, wie wir uns als Gesellschaft umeinander kümmern – hat sich schlagartig verändert. Besonders wurde mir bewusst, wie sehr ich patriarchale Strukturen verinnerlicht hatte und wie stark ich beruflichen Erfolg und Karriere mit Emanzipation und Empowerment gleichsetzte. Doch dass dabei kein Raum für Sorgearbeit und Verletzlichkeit bleibt, kann man nicht lange ignorieren, wenn man Mutter wird. 

Lange habe ich dem Karriere-Feminismus geglaubt, dass man „alles haben kann“ – solange man nur emanzipiert, solange man nur empowert genug ist. Im Grunde ist das die alte neoliberale Leier: Wenn man nur hart genug arbeitet, klappt es schon. Doch die Realität sieht anders aus. Kein Individuum, keine noch so gleichberechtigt gelebte Elternschaft kann allein gegen Strukturen ankommen, die Care-Arbeit systematisch abwerten. Die viel gepriesene „Vereinbarkeit“ von Beruf – und allem, was damit verbunden ist: finanzielle Unabhängigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Selbstwirksamkeit – und Care-Arbeit bleibt eine Illusion, weil Letztere in unserer Gesellschaft keine echte Wertschätzung erfährt. 

Ich habe verstanden, dass es eine grundlegende Veränderung braucht – eine, die nicht (nur) beim Individuum ansetzt, sondern bei unserem gesellschaftlichen Umgang mit Verletzlichkeit. Denn als sorgebedürftige Wesen sind wir alle aufeinander angewiesen. 

DT: Und warum in dieser Form und Struktur? 

AG: Ich wollte einen Monolog schreiben, weil ich durchspielen wollte, wie ein Individuum vor vielen Menschen (dem Publikum) steht und eine direkte Beziehung zu ihnen eingeht. Dabei macht sich diese Person extrem verletzlich und riskiert alles. 

Am Ende bleibt offen, wie das Publikum mit dieser Verletzlichkeit umgeht – ob es vielleicht den Transfer zur eigenen Verletzlichkeit und Verantwortung schafft. Ich wollte die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Struktur und Individuum wie in einer kleinen Versuchsanordnung für einen Theaterabend denken, dessen Ausgang offen bleibt. 

DT: Da wir alle von einer Jahrtausende alten patriarchalen Gesellschaft gelehrt, geformt und geprägt wurden, liegt die Chance für Feminismus und die Auflösung des Patriarchats wirklich in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in der Familie und vor allem in der heteronormativen Beziehung, aus der Kinder hervorgegangen sind? 

AG: Mit der Zementierung der heteronormativen Kleinfamilie als einzige mögliche Organisationsform sozialer Gemeinschaft wurde Care-Arbeit entwertet, privatisiert und vor allem als unbezahlte Aufgabe Frauen überlassen. Dies geschah unter der Prämisse des Patriarchats, dass Frauen „von Natur aus“ – also aufgrund zugeschriebener biologischer Merkmale – dazu bestimmt seien, sich um andere zu kümmern. Ich glaube also, um das Patriarchat zu überwinden, müssen wir bei der Kernfamilie ansetzten. 

Ich halte es deshalb für essenziell zu verstehen, warum die Kleinfamilie in ihrer Struktur und ihrem Kern problematisch ist. Gleichzeitig lebe ich selbst in diesem Modell und frage mich, wie ich Familie so verändern kann, dass sie ihre patriarchalen Strukturen sprengt. Falls ich herausfinde, wie das geht, melde ich mich nochmal 😉 

DT: Ist die Amygdala patriarchal? 

AG: Ich habe mich mit diesem Teil des Gehirns beschäftigt, weil Studien gezeigt haben, dass die Amygdala auf ihr Umfeld reagiert und sich entsprechend verändert – insbesondere durch die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen, etwa für ein anderes Lebewesen. Der Körper passt sich den Aufgaben an, die ihm zugeteilt werden. Eine „natürliche“ biologische Veranlagung gibt es in diesem Sinne also nicht. 

Ich fand es spannend, wie sich Sozialisation in den Körper einschreibt – und dass es sich dabei um etwas handelt, das veränderbar ist. 

 DT: Siehst du dich als Feministin? 

AG: Ja.  

DT: Frauen  und FLINTA- Personen leiden in erster Linie an diesen Missständen, aber auch Männer werden im Unternehmens- und Arbeitsalltag leider immer wieder davon unter Druck gesetzt. Die toxischen patriarchalen Strukturen sind dabei ein ganzheitliches Problem unserer Gesellschaft, die leider sogar allzu gerne von Menschen, die selbst durch ihre Veranlagung an die Ränder unseres Miteinander gedrängt werden, bedient werden. Nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern leider auch in kulturellen Bereichen wie dem Theater. Wie können wir das überwinden? 

AG: Indem wir uns mit anderen Menschen verbinden, denen es ähnlich geht, aber auch Allianzen mit jenen schmieden, die an anderen Stellen kämpfen. Indem wir viel zuhören, Raum geben und überlegen, wie sich alle an der Diskussion beteiligen können – auch wenn das bedeutet, selbst erst einmal nichts zu sagen. 

Als Gesellschaft können wir nur durch Solidarität etwas bewirken. Wir müssen verstehen, dass, selbst wenn uns ein Thema persönlich nicht betrifft, wir letztlich alle von einer gleichberechtigten Gesellschaft profitieren. 

DT: Yael Ronen behauptet in ihrem Werk „Slippery Slope“ über das Patriarchat: „Once you see it, you can’t unsee it”. Glaubst du mit “Die Entführung der Amygdala” auch hierfür sensibilisieren zu können? 

AG: Das wäre schön. Das Stück wurde bereits an zwei anderen Theaterhäusern inszeniert, und bei den Vorstellungen sowie den Nachgesprächen waren viele Frauen und Mütter anwesend. Da fielen oft Sätze wie: „Ich werde meiner Mutter, Tochter, Freundin etc. von diesem Stück erzählen – sie muss es unbedingt sehen.“ 

Ich glaube, genau dieses Moment – das Wiedererkennen der eigenen Geschichte oder von Teilen davon auf der Bühne und das Gefühl, dass diese Geschichte auch von anderen gesehen wird – kann viel bewirken. Es kann Kräfte freisetzen, aber vor allem verdeutlichen, dass es sich nicht um ein individuelles Schicksal handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Und genau das macht es leichter, sich weniger allein zu fühlen, in Verbindung zu kommen, in die Solidarität, die Kraft. 

DT: Ich glaube, dass der erste Schritt Reflexion sein muss. Habe ich Diskriminierung erfahren oder bin ich durch ein Erlebnis für patriarchale Strukturen sensibilisiert worden und kann ich sie benennen, dann kann ich lernen, damit umzugehen. Wie der Fisch im Wasser, der sich des Wassers bewusst ist. Oder? 

AG: Ja, genau. Je mehr wir uns bewusst werden an welchen Stellen wir vielleicht Dinge reproduzieren, die wir eigentlich ablehnen, oder die uns selbst schaden, desto öfter gelingt es uns auch anders zu handeln, uns bewusst zu entscheiden und uns dadruch mit anderen zu verbinden.  

DT: Ich wünsche mir für unsere Zukunft, dass wir diese toxischen Verhaltensweisen endlich ablegen, verlernen können, um tolerant und frei von Vorurteilen friedlich miteinander leben können. Oder meinst du, das ist zu kurz gedacht? 

AG: Ich glaube an Utopien – und daran, dass sie scheitern dürfen. Denn gerade ihr Scheitern ist der Grund, warum wir immer weiter an ihnen arbeiten müssen. Je weiter eine Utopie entfernt scheint, desto mehr müssen wir an sie glauben. 

DT: Was schlägst du vor? 

AG: Sich kurz auf den Boden zu legen, das beruhigt das Nervensystem. 

HIV/AIDS – damals und heute 

Michael Peintner aus dem Bereich sexuelle Bildung und Psychotherapie / Sexualtherapie hat als vorbereitende Maßnahme des Musicals RENT von Jonathan Larson dieser Produktion einen Workshop für die richtige Einordnung von HIV und AIDS und sexueller Gesundheit abgehalten. Im Musical RENT geht es um junge Künstler:innen Bohemiens im New York Mitte der 90er Jahre, die durch HIV / AIDS, Gentrifizierung, Drogen und Obdachlosigkeit bedroht werden. Damit alle im Probenprozess vom gleichen Wissensstand ausgehen können, hat Michael Peintner eindrucksvoll und interessant alle Vorurteile, Stigmatisierungen und Fehlinformationen auf diesem Bereich für uns alle klären können. Dramaturg Daniel Theuring nutzte daher die Chance, ein Interview mit ihm zum selben Thema für Sie zu führen, denn auch Sie, liebes Publikum sollen von dieser spannenden und ganzheitlichen Aufklärung profitieren dürfen. 

Daniel Theuring: Lieber Michael Peintner, du hast dich der sexuellen Bildung -dazu gehört auch Aufklärung zur sexuellen Gesundheit- und Psychotherapie verschrieben. Wie kam es dazu? 

Michael Peintner: Ich habe mich schon sehr früh -v.a. aus persönlichen Gründen- mit dem Thema „Sexualität“ auseinandergesetzt, da ich bereits in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter merkte, dass ich mich als „anders“ wahrgenommen hatte, gelernte Normen sich nicht stimmig anfühlten und ich nicht heteronormativ leben konnte/wollte. Nichtsdestotrotz oder vor allem deswegen hatte und habe ich für mich immer schon einen positiven Zugang zu meiner Sexualität gefunden und zwar jenseits von heteronormativen Konstrukten. Somit habe ich mich in den Bereichen sexuelle Bildung und Psychotherapie/Sexualtherapie qualifiziert, um andere Menschen aller Altersgruppen, Orientierungen und Identitäten wertschätzend, achtsam und respektvoll zu begleiten, damit sie ihren Weg zu einer selbstbestimmten, gesunden und stimmigen Sexualität finden können.  

DT: Es gibt ja nicht nur HIV, wodurch viele Menschen stigmatisiert und diskriminiert wurden und immer noch werden, sondern auch eine ganze Reihe von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Was kursiert denn da alles so noch und wie wirkt sich das aus? 

MP: Alle sexuell übertragbaren Krankheiten werden zusammengefasst unter den Fachbegriffen STI (sexually transmitted infections) oder STD (sexually transmitted deseases). Am meisten kursieren Lues (Syphillis), Gonorroeh (Tripper), Chlamydien, Kondylome (Feigwarzen), Herpes genitalis und Filzläuse. Im Unterschied zu HIV sind diese alle heilbar (meistens mit Antibiotika), sofern die Erreger rechtzeitig erkannt werden.  

Auch HPV (humanes Papillomvirus), Hepatitis B und C sind nicht selten. Bei rechtzeitiger Diagnose sind auch diese heilbar. Gegen HPV und Hepatitis B schützt ebenfalls eine Impfung. 

DT: Was ist der Unterschied zwischen HIV und AIDS? Wann, warum und wie hat uns diese Pandemie erfasst? 

MP: HIV (Human Immunodeficiency Virus; zu deutsch: humanes Immundefizienz-Virus) ist der Erreger, der die Krankheit AIDS (Acquired Immuno Deficiency Syndrome, zu deutsch: erworbenes Immunschwächesyndrom) auslösen kann. Das bedeutet, dass ein Mensch, der eine HIV-Infektion hat, noch nicht automatisch die Krankheit AIDS hat. Aber wenn eine HIV-Infektion unentdeckt und/oder unbehandelt bleibt, dann entsteht in den meisten Fällen die Krankheit AIDS, die das Immunsystem angreift und schwächt.   

HIV wurde 1983 erstmals von französischen Virolog:innen isoliert. Aber bereits im Jahre 1981 sind v.a. in den USA seltsame Lungenentzündungen mit Anschwellen der Lymphknoten aufgetreten. Das Virus hat sich dann sehr schnell weltweit verbreitet und die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in der Konsequenz bereits in den 1980er Jahren die AIDS-Pandemie ausgerufen, in der wir offiziell immer noch sind. 

Michael Peintner ©Michael Peintner

DT: Leider hält sich das Vorurteil hartnäckig, dass es sich bei HIV und AIDS um eine „Schwulenseuche“ handle. Warum? 

MP: Die ersten HIV-Infektionen in den USA (und später auch bei uns) betrafen v.a. Männer, die Sex mit anderen Männern hatten. Da damals (und teilweise noch heute) v.a. in den USA -angefeuert durch verschiedene klerikale fundamentalistische Gruppierungen- eine massive homophobe Gesellschaft vorherrschte, wurde dort ein weiterer „Grund“ gefunden, um gegen schwule Männer zu hetzen. Und der extrem abwertende diskriminierende Begriff „Schwulenseuche“ war geboren. Zum Glück findet sich dieser Begriff in den west-, mittel- und nordeuropäischen Ländern fast überhaupt nicht mehr. Wir wissen ja mittlerweile, welche unterschiedlichen Infektionswege es gibt. Und neben Männern, die Sex mit Männern haben, gibt es ja auch noch andere Risikogruppen, wie z.B. suchtabhängige Menschen, die unsterile Spritzen benutzen. Und ich spreche bewusst NICHT von schwulen Männern als Risikogruppe, sondern von Männern, die Sex mit Männern haben. Das ist nämlich nicht das gleiche: Männer, die grundsätzlich romantisch und/oder sexuell heterosexuell leben (und sich nicht als „schwul/homosexuell/gleichgeschlechtlich orientiert“ definieren) können (ab und zu) Sex mit anderen Männern haben und gehören somit zur Risikogruppe.  

DT: Wie kann HIV in der aktuellen Zeit am meisten übertragen werden? 

MP: Da muss noch unterschieden werden, von welcher geographischen Zone wir reden. In der EU sowie USA und Kanada erfolgen die meisten Infektionen durch Geschlechtsverkehr, v.a. bei Männern, die Sex mit anderen Männern haben. In Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken wird HIV neben den sexuellen Übertragungswegen noch vermehrt durch unsterile Spritzen übertragen. Auch in den dortigen Gefängnissen ist HIV weit verbreitet. In diesen Ländern ist aber HIV/AIDS teilweise noch stark tabuisiert und es fehlt an flächendeckenden Aufklärungskampagnen. In Afrika ist die gesamte Bevölkerung quer über alle Altersgruppen (auch Kinder) und soziale Schichten von HIV-Infektionen betroffen. Das liegt einerseits an mangelnder Aufklärung und andererseits an fehlender bzw. unzureichender medizinischer Versorgung. 

DT: Das Musical RENT von Jonathan Larson wurde 1996 uraufgeführt. Larson zeigt darin eine WG von Künstler:innen, die sich als Bohemiens verstehen, die durch HIV/AIDS, Drogenabhängigkeit und Geldnöte bedroht werden. Der/die Zuschauer:in begleitet sie genau ein Jahr und erlebt mit, wie einige davon dieses Jahr nicht überleben. Larson hat es sehr belastet, dass einige seiner Freund:innen auch an AIDS gestorben sind, was ihn dazu veranlasst hat, RENT zu schreiben. So wie ich dich bei unserem produktionsvorbereitenden Workshop „HIV/AIDS – damals und heute“ verstanden habe, war 1996 auch das Jahr, in dem sich das grundlegend geändert hat. Warum? 

MP: Bis 1996 sind Menschen mit HIV an den Folgen von AIDS gestorben, weil nur Symptome behandelt, aber nicht das Virus selbst bekämpft werden konnte. 1996 kam es zu einer deutlichen Zäsur: Es wurde die sog. antiretrovirale Therapie entdeckt. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus 2-3 verschiedenen Medikamenten, die tagtäglich eingenommen werden müssen. Das Virus kann damit zwar nicht getötet, aber es kann soweit in Schach gehalten werden, dass es sich im Körper nicht mehr ausbreiten kann. Das HI-Virus schlummert sozusagen im Körper und ist nicht aktiv. Seit 2020 können sich HIV-infizierte Menschen anstatt der Tabletten auch für 2 Spritzen entscheiden, die alle 2 Monate im Gesäßmuskel vom medizinischen Personal verabreicht werden. 

DT: Wie kann ich mich heute vor einer Infektion mit HIV schützen? 

MP: Zum einen schützt die korrekte Verwendung des Kondoms vor einer HIV-Infektion. Seit 2016 gibt es für Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko die PrEP (Präexpositionsprophylaxe). Am sichersten ist die tägliche Einnahme dieses Medikamentes, das vor einer HIV-Infektion schützt, nicht aber vor den anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. 

DT: Wie sollen in der heutigen Zeit Präventionskampagnen gestaltet werden, um Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu reduzieren? 

MP: Die aktuellen Präventionskampagnen haben das Ziel, ALLE Menschen anzusprechen (unabhängig von der sexuellen/romantischen Orientierung) und ebenfalls zu ALLEN sexuell übertragbaren Krankheiten zu informieren. Es geht v.a. darum, die Menschen zu motivieren, sich regelmäßig testen zu lassen. Bei rechtzeitiger Diagnose kann die betroffene Person effizient behandelt und weitere Infektionen durch diese Person können verhindert werden. Auch wenn HIV nicht heilbar ist, können HIV-infizierte Menschen, welche durch eine Therapie eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, andere Personen nicht infizieren. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO gelten Menschen mit einer HIV-Infektion, welche eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, als gesund. 

Vielen Dank für das Interview!  

Das Publikum emotional packen 

Martin Finnland, Künstlerischer Leiter des Kollektivs „Nesterval“ und Regisseur von „Die 7 Tage von Mariahaim“ über immersives Theater und die Arbeit in Bozen. 

Elisabeth Thaler: Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform? 

Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.  

Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt? 

Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht… 

Martin Finnland ©Alexandra Thompson

Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“? 

Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.  

Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern? 

Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte. 

FLAMINGA: Hidden tales and paths

KIDS CULTURE FESTIVAL 24  

#participation #performance #theater #experience

Laborparkour mit Theaterpädagogin Brigitte Moscon und Schauspieler Paolo Tosin (Vereinigte Bühnen Bozen)

für Kinder ab 6 Jahren / zweisprachig DE+IT

20—22. September, Transart OASIE (Dantestraße 32, Bozen) 

jeweils um 15 und 16 Uhr 

Dauer: 50 Minuten

Magisch, mannigfaltig, groß und grün: Was ist die Transart OASIE noch alles? Hier gibt es Unsinniges, Eigensinniges und Vielsinniges zu entdecken. Wir bewegen uns achtsam und langsam, erkunden gemeinsam einen neuen Ort, der vielleicht bald nicht mehr sein wird … Wenn wir Spuren erspähen, folgen wir ihnen behutsam, lassen uns von ihnen leiten, begleiten und inspirieren: Farben, Formen, Schatten und Muster weisen uns den Weg über ein Gelände, wo Stadt und Natur und Malerei miteinander verschmelzen. Augen auf, Ohren auf, Hände und Füße bewegen sich, die Nase schnüffelt und erforscht alles. Und FLAMINGA ruft laut: Welche Perspektiven verstecken sich in diesem Raum? Hoch, tief oder in der Mitte? Hinten oder vorne? Und wir folgen ihrem Ruf: Aus verschiedenen Blickrichtungen nehmen wir ihn wahr, diesen neuen Raum. Und fragen uns auch: Welche Geschichten mögen hier wohl noch entdeckt werden? Welche Wörter müssen dafür noch gefunden und erfunden werden?

Eltern können mit ihren Kindern am Anfang zusammen teilnehmen, im zweiten Teil warten die Eltern in der Chill-Lounge auf ihre Kinder.
Anmeldung vor Ort / info@kidscultureclub.it / Tel. +39 353 446 6954

Mit der Vielfältigkeit und Freiheit der Operette spielen 

Ein Gespräch mit der Musikalischen Leiterin Elisa Gogou und der Regisseurin Susanne Lietzow 

Elisabeth Thaler: „Die lustige Witwe“ ist deine erste Operetteninszenierung. Was hat dich an diesem Genre gereizt? 

Susanne Lietzow: Im ersten Moment hat mich der Verruf des Genres gereizt. Die Operette wurde nach dem Vorbild der Pariser Opéra comique als eigenständige Kunstform erfunden, um der Oper eine freiere Art von Musiktheater entgegenzustellen. Die Aufführungsgeschichte jedoch hat die Operette extrem in ein konservatives Eck gebracht. Es gibt nun viele Bestrebungen, das Genre zu aktualisieren und eine andere Generation von Zuschauer:innen neu dafür zu gewinnen. Das hat mich interessiert. „Die lustige Witwe“ ist zudem eine Komödie, die auch einen absurden Zugriff erlaubt, mit einer wunderschönen Liebesgeschichte im Zentrum.  

Die Operette wird oft als „leichte Unterhaltung“ angesehen. Was ist die Herausforderung, eine Operette zu dirigieren? 

Elisa Gogou: Als Kapellmeister:in ist es absolut notwendig, Operetten zu dirigieren, weil es technisch zu den wichtigsten Aufgaben gehört. Zum Beispiel die Wechsel der Tempi, Übergänge, Auftakte … lernt man nur durch die Operette. Sonst kann man Puccini ecc. nicht begleiten. Einen Walzer zu dirigieren, ist nämlich alles andere als einfach. 

Elisa Gogou
Foto: Anna Cerrato

„Die lustige Witwe“ wird als 1. Tanzoperette bezeichnet. Was war musikalisch das Neue an diesem Werk?  

Elisa Gogou: Lehár war im Genre der Operette ein Anfänger und musste seinen eigenen Stil finden. Es gab Berührungspunkte durch seine Biografie, da er als Violinist in der Kapelle seines Vaters gespielt hat, der wiederum am Theater an der Wien unter Franz von Suppé gespielt hat. Dennoch kannte Lehár als Militärkapellmeister den Walzer nicht sehr gut. Er schaffte es aber, derart kreative und geniale Melodien zu schreiben, die nur mit der „Fledermaus“ zu vergleichen sind. In der „Lustigen Witwe“ unterscheidet er musikalisch zwischen den beiden Regionen. Für Pontevedro schreibt er Mazurka, Polonaise, Kolo. Wenn Hanna Glawari zu den Herren spricht, benutzt sie den Walzer. Für die Franzosen komponiert er Cancan, Galopp, Märsche und den Langsamen Walzer. Mit dieser Operette läutete Lehár eine neue Ära ein. Danach wurden international viele Stücke nach dem Vorbild der „Lustigen Witwe“ geschrieben, doch niemand konnte sie übertreffen.  

Lehár ging nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch inhaltlich. Er und seine Librettisten León und Stein sprachen aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an. Das fiktive „Pontevedero“ verweist beispielsweise auf „Montenegro“, die „Damenwahl“ im 1. Finale bezieht sich auf das damals diskutierte allgemeine Wahlrecht. Hanna Glawari gilt als moderne Darstellung einer unabhängigen Frau. Wo trifft dieses Stück auch heute noch den Nerv der Zeit? 

Susanne Lietzow: Die Frauenfiguren in der „Lustigen Witwe“ sind von Lehár sehr stark gezeichnet. Dennoch wissen wir alle, dass wir heute frauenpolitisch anders mit diesen Stoffen umgehen müssen, weil sie uninterpretiert auf der Bühne nicht mehr funktionieren. Vor allem muss man die „Altherrenwitze“ eliminieren. Es gibt die wehrhafte Frau im Zentrum, die selbstbewusst um ihre Zukunft kämpft. Es war mir auch ein Anliegen, die Pariser Grisetten nicht als männerbelustigende Hupfdohlen auf die Bühne zu stellen, sondern als Frauen, die sich für dieses Leben bewusst entschieden haben. Diese Umdrehungen sind mir sehr wichtig. Zudem ist es ja auch eine Komödie, und Komödien haben immer einen tieferen Hintergrund und Sinn. Natürlich kann das Spiel mit einer Exilgesellschaft, die zu Hause eine Diktatur erlebt hat und sehr, sehr gerne das demokratische System in Paris mit lebt, als Assoziation ins Jetzt gelesen werden, wo Diktaturen sich wieder ausbreiten und die über Jahre erkämpften Rechte und Freiheiten unserer Gesellschaft wieder angegriffen werden.

Ein humorvoller und gleichzeitig politischer Zugang scheinen gerade bei der Operette oft ein Widerspruch. Wie bringst du beides zusammen? 

Susanne Lietzow: Man verstärkt Assoziationen. Als Beispiel nenne ich das Thema „Klassengesellschaft“ in der Beziehung von Hanna und Danilo. Bei uns stammt sie nicht vom Landadel ab, sondern ist ein Dienstmädchen und gehört einem Stand an, der der Liebe zu Danilo völlig im Weg steht. Das Spannende ist, dass sich Hanna komplett darüber hinwegsetzt. In unserer Inszenierung haben wir den beiden eine uneheliche Tochter zur Seite gestellt. Hanna legt großen Wert darauf, dass dieses Mädchen eine so gute Ausbildung bekommt, dass sie auch ohne Mann überleben könnte. Das kann Hanna noch nicht.  

Susanne Lietzow
Foto: Susanne Lietzow

Wenn wir auf die Liebe schauen, sehen wir verschiedene Liebesgeschichten: die unerfüllte Liebe, die verbotene Liebe, den erotischen Liebeskampf. Spürt man diese Unterschiede auch in der Musik? 

Elisa Gogou: In Lehárs Musik geht alles um Erotik und Sinnlichkeit, aber in verschiedenen Facetten. Valencienne ist eine Kokette, das spürt man auch in der Musik, die ihren Charakter beschreibt, ihre Gefühle und Bewegungen. Wenn man die Melodien hört, sieht man Valencienne vor sich, wie sie mit Leichtigkeit und spielerisch mit den Männern umgeht. Das haben die Frauen in dieser Gesellschaft trainiert. Wenn Hanna zu den Männern spricht und ihnen nahekommt, benutzt sie den Langsamen Walzer. Sie hat eine starke Seite und darf entscheiden, wen sie nehmen kann und wen nicht. Beim Duett „Lippen schweigen“ spürt man, dass sich Hanna und Danilo lieben. Es war ihr Schicksal, dass sie sich wiedertreffen und wiederfinden, egal wie ihr Leben inzwischen verlaufen ist. Das Chanson der Grisetten hingegen ist frech. Die Beschreibung der Charaktere ist musikalisch sehr durchsichtig. 

Susanne, du hast die Dialoge zum Teil umgeschrieben und aktualisiert. Wie bist du mit dem Text umgegangen?  

Susanne Lietzow: Manchmal ist der Text im Original „verplaudert“, manchmal altmodisch und frauenfeindlich. Ich habe versucht, die Sprache frecher und direkter zu nehmen. Sprache ist eine totale Behauptung. Wir spielen Tschechow am Theater und tun so, als ob wir alle Russ:innen wären. Mich hat das Aufeinanderprallen von Franzosen und Slawen in der „Lustigen Witwe“ interessiert, weil es zwei sehr verschiedene Mentalitäten sind, auch sprachlich. Es sind zwei unterschiedliche Melodien. Das fand ich spannend und sehr schön.  

Elisa Gogou: Ich finde es auch so toll, dass die Figuren die eigene Sprache benutzen, besonders um zu schimpfen.   

Die 20er-Jahre, der „Tanz auf dem Vulkan“, spielen in unserer Inszenierung eine große Rolle. Wo siehst du eine Verbindung zwischen den 20-er Jahren des 20. und den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts? 

Susanne Lietzow: Wir haben die Operette zeitlich nicht ins Heute gesetzt, sondern in die 20-er Jahre. Mich berührt diese Zeit, in der nach der großen Verwerfung des 1. Weltkrieges 20 Jahre später wieder ein Weltkrieg möglich war. In den 20-er Jahren erlebten die Menschen eine enorme Aufbruchstimmung in allen Bereichen: für Frauen, für Demokratie … es war eine Zeitenöffnung, die leider nur kurz gedauert hat. Wie war es möglich, nach diesem Gefühl des Aufbruchs so einen Backlash zu veranstalten? Unsere Öffnung heute hat etwas länger angedauert, doch erleben wir zur Zeit leider auch wieder Demokratieverlust, Rückschritt in allen Bereichen. Insofern ist es schön, dass wir auf der Bühne in eine Welt hineinschauen, wo Aufbruchstimmung herrscht.  

Elisa, was liebst du an der „Lustigen Witwe“?  

Elisa Gogou: Ich liebe die Vielfältigkeit und die Freiheit, die diese Operette zulässt. Die Künstler:innen müssen sich auf der Bühne frei bewegen und singen können. Ich muss als Dirigentin in der Lage sein, das Orchester mitschweben zu lassen. In der „Lustigen Witwe“ ist die Musik so extrovertiert, dass die Sänger:innen die Gefühle spüren, mir in den Graben geben und ich als Mediatorin diese dem Orchester  weitergeben muss. Das macht jede Vorstellung spannend und nie langweilig.  

Vielen Dank für das Gespräch!