„Alles ist Alice“ 

Ein Essay von Produktionsdramaturgin Mona Schlatter 

Liebe Kinder und alle, die wieder welche werden wollen,

„Alice im Wunderland“ von Lewis Caroll befreit sich und entwischt. Dieses nach Shakespeare berühmteste Stück englischer Literatur schiebt sich entstehungsgeschichtlich zusammen wie ein Fernrohr auf einen legendär gewordenen Bootsausflug am 4. Juli 1862: Der Mathematikdozent vom Christ Church College (Oxford) Charles Lutwidge Dodgson rudert mit einem Freund und den drei Töchtern des Dekans auf der Themse: Edith, Lorina und die zehnjährige Alice Liddell: „Wir erhoben alle drei den altbekannten Appell: ‚wir wollen eine Geschichte hören‘, und so begann dann die ewig entzückende Erzählung.“ So der Marketing-wirksame Mythos, der die Erscheinung von „Alice in Wonderland“ 1865 unter Dodgson Künstlernamen Lewis Carroll begleitet.

Nicht nur die historische Alice wächst, auch das von dem bekannten Satiriker und Illustrator John Tenniel bebilderte Buch wird groß, wächst über sich hinaus. Verdoppelt sich mit dem zweiten Teil „Alice hinter den Spiegeln“ (1872). Seitdem ist Alice überall, nimmt alle möglichen und unmöglichen Formen an – Alice ist eine Entfesselungskünstlerin. Sie befreit sich und entwischt. Aus den Fesseln der viktorianischen Zeit und ihrer reaktionären Moralerziehung, aus den Fesseln der Logik in grenzgängerische Paradoxien und unendliche Sprachspiele und aus den zwei Deckeln eines Buches in ein internationales, multimediales Spektakel (Comics, Oper, Film und Theater).

Die Regisseurin Fanny Brunner hat sich mit ihrer Überarbeitung von Peter Sieferts Fassung (aus dem Jahr 2000) für eine „Alice“ entschieden, die sich im Labyrinth des Aufwachsens, Aufwachens durchschlägt, die sich kämpferisch im System der köpfenden Königin gibt, die den Männern die Meinung geigt und den Willkürstaat im Wunderland als das bezeichnet, was er ist: Unsinn.

Auch bei uns beginnt die Heldinnenreise von Alice historisch, im viktorianisch-feudalen Familiensystem: Vater (René Dalla Costa), Mutter (Eva Kuen), Onkel (Jonatan Blomeier), Lehrer (Johannes Karl), Dienstmädchen (Viktoria Obermarzoner) und gelangweiltes Kind betreten die Bühne, bevor die Welt kippt und Alice (Vivienne Causemann) dem weißen Kaninchen mit der tickenden Uhr Down the Rabbithole nachreist: Ins Wunderland. Dort stehen die Figuren der Familie plötzlich Kopf, verwandeln sich in komische, monströse oder exzentrische Doppelgänger. Im Wunderland der familiären Figurationen der Unruhe wird Alice auch in Bozen Reißaus nehmen und zu einer Ikone der paradoxen Moderne werden. Die widersprüchliche Welt der Erwachsenen, ihr Glück und ihr Terror aus den Augen eines jungen Mädchens zu erleben, fordert nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene heraus, über das nachzudenken, was wir für selbstverständlich halten.           

Alice im Wunderland von Lewis Carroll, dieser Klassiker der Kinderliteratur, dieses Meisterwerk des Nonsens, befreit nicht nur Alice, sondern auch sein Publikum von den Fesseln des eingeübten Blicks der Erwachsenen, wie Virginia Wolf feststellt: „The two Alices are not books for children; they are the only books in which we become children.“ – „Die zwei Alices sind keine Bücher für Kinder, sie sind die einzigen Bücher, in denen wir Kinder werden.“

„Vertrauen ist essenziell!“ – Über Begegnungen auf Augenhöhe und gemeinsames Nachdenken

Im Gespräch mit Regisseurin Verena Holztrattner und Bühnen- und Kostümbildnerin Martine Mairhofer zur Arbeit am Klassenzimmerstück „Dschabber“ von Marcus Youssef

Emma Mulser: „Dschabber“ erzählt die Geschichte von Fatima und Jonas, zwei jungen Menschen, die sich trotz Verschiedenheiten näherkommen, versuchen einander zu verstehen und zu vertrauen. Sie stoßen dabei auf Hürden, wie Vorurteile und Missverständnisse, die sie auch in ihrer Suche nach der eigenen Identität herausfordern. Denn sich einander zu öffnen, bedeutet auch, sich verwundbar zu machen.
Verena, deine Aufgabe als Regisseurin ist es, Geschichten zu erzählen und eine Form dafür zu finden. Welche besonderen Möglichkeiten bietet dir das Format des Klassenzimmerstücks für diese Geschichte?

Verena Holztrattner: Eine besondere Qualität des Klassenzimmerformats ist, dass man sehr nah am Publikum dran ist. Es gibt keinen klar abgegrenzten Bühnenraum, keinen abgedunkelten Saal, keine beeindruckende Theatermaschinerie. Spielende und Zuschauer:innen begegnen einander im Klassenzimmer wirklich auf Augenhöhe, ganz unvermittelt und direkt. Für meine Arbeit bedeutet das ganz konkret: es lässt sich nichts verstecken, es lässt sich auch nicht theaterzaubern, aber dafür lässt es sich um so besser gemeinsam nachdenken und erzählen. Wir möchten die intime Aufführungssituation nutzen und das Publikum immer wieder liebevoll in die Geschichte miteinbinden, als Kompliz:innen, als Spiegel für die Figuren oder auch ganz einfach als Einspringer:innen für Figuren, die wir nicht besetzen konnten.
Die Schule ist ein zentraler Haupthandlungsort im Stück. Fatima und Jonas lernen sich genau dort kennen, wo später auch die Vorstellungen stattfinden werden. Dieser geteilte Raum bietet großes Identifikationspotenzial.

EM: Martine, du hast dich der Aufgabe gestellt, für „Dschabber“ aus einem Raum viele zu machen. Die Figuren begegnen einander im Geschichtsunterricht, ziehen sich in ihre Zimmer zurück oder treffen sich im digitalen Raum via Insta-Call.
Du hast dafür ein Bühnenobjekt geschaffen, das an eine zeltförmige Gerüstkonstruktion erinnert. Klingt erstmal simpel. Was muss ein Bühnenbild deiner Meinung nach alles „können“, um vor allem in fremden Räumen, wie dem Klassenzimmer, neue Welten zu erschaffen?

Martine Mairhofer: Das Bühnenbild muss für die Darsteller:innen gut bespielbar sein. Es soll für die Spieler:innen ein „Gerüst“ sein, um im Spiel Räume zu erschaffen und diese erspielten Räume wiederum zu visualisieren. Durch die abstrakte Setzung sind die Möglichkeiten zahlreich. Das Objekt wird gedreht, es wird gekippt, es kommen Elemente dazu, und wir sind nach jeder dieser Aktionen woanders. Ohne großen Aufwand entstehen neue Räume.
Jetzt im Probenprozess entdecken wir gemeinsam noch zusätzliche, neue Interaktionsmöglichkeiten mit dem Bühnenbild, die man sich eben nicht am Schreibtisch ausdenken kann. Nach meiner Konzeption ist das die Aufgabe – und vielleicht das Geschenk – an die Regie und die Spielenden: sich daran auszutoben. Und zuletzt wird das Bühnenobjekt natürlich durch das Publikum mit Bedeutung aufgeladen. Das interessiert mich am meisten: Was sehen die jungen Menschen, wie verhalten sie sich dazu?  

v.l. Martine Mairhofer und Verena Holztrattner

EM: Ihr habt beide von Interaktionen und Begegnungen gesprochen. Mit der Bühne und dem Raum, zwischen Spielenden und Publikum – Publikum und Raum.
Bevor es jedoch in die Proben und dann in die Vorstellungen geht, begegnet sich das künstlerische Team. Ihr kanntet euch vor dieser Arbeit nicht, musstet also auch erstmal versuchen, einander zu verstehen. Wie war diese erste künstlerische Begegnung zwischen und für euch? Wie wichtig ist Vertrauen dabei?

VH: Vertrauen ist essenziell!

MM: Ja!

VH: Man muss dem Gegenüber und dem Prozess vertrauen. Und schnell eine gemeinsame Sprache finden. Zum Glück hat das bei uns von Anfang an gut funktioniert, dieses erste gemeinsame Nachdenken im Gespräch. Trotzdem weiß man vor Probenbeginn nie genau, wie man in der Arbeit zusammenfinden wird. Sprechen wir wirklich die gleiche Sprache? Kann ich mit Martines Raum so umgehen, wie sie es sich wünscht? Komme ich mit ihrem räumlichen Konzept so klar, dass es meinen Vorstellungen entspricht, dem Stück gerecht wird und die Spielenden unterstützt?
Einander von Anfang an einen Vertrauensvorschuss zu geben, ist entscheidend. Theater gelingt nur gemeinsam. Ideen werden stärker und vielfältiger und größer, wenn viele mitdenken, mitgestalten und zusammenarbeiten. Macht auch einfach mehr Spaß.

MM: Das tolle an der Theaterarbeit ist, dass sich der kreative Prozess auf verschiedene Positionen aufteilt: Regie, Bühne, Kostüme, Musik, etc. Man ist die jeweilige Expertin der eigenen Position und kann sich auf die Expertise der Anderen verlassen – und darauf vertrauen.

EM: Klassenzimmerstücke bringen das Theater in seiner pursten Form an junge Menschen. Hattet ihr als Jugendliche Begegnungen mit dem Theater? Wenn ja, wo und wie haben diese stattgefunden?

MM: Ich erinnere mich vor allem an Formate, die nicht unbedingt auf junge Menschen und ihre Wahrnehmungsbedürfnisse eingegangen sind. Und – bis auf das Krippenspiel – keine Möglichkeiten, aktiv in einem schulischen Kontext Theater zu spielen und selbst aktiv zu werden im Rahmen dieses Mediums.

VH: Ich bin erst spät zum Theater gekommen, nach meiner Schulzeit – nicht aus Desinteresse, sondern weil mir der Zugang lange gefehlt hat. Als Schülerin gab es für mich nur wenige Berührungspunkte mit dem Theater. Umso schöner finde ich es heute, wenn das Theater in Schulen geht und dort Begegnungen ermöglicht, die vielen sonst vielleicht verwehrt blieben. Solche ersten Erfahrungen können viel in Bewegung setzen.

Emma Mulser – Foto: © Anna Cerrato

EM: Was wünscht ihr euch vom Theater für junge Menschen?

VH: Fragen zu stellen und gemeinsam nachzudenken. In Kontakt treten miteinander, mit Themen, mit Figuren, mit unterschiedlichen Perspektiven. Und das nicht auf eine belehrende Art und Weise, sondern auf Augenhöhe, im besten Fall im gemeinsamen Austausch. Das fände ich ziemlich großartig. Und ich glaube, das kann das Theater auch wahnsinnig gut.

MM: Ich wünsche mir, dass das Theater bei jungen Menschen Spiellust weckt und den Mut, selbst mitzugestalten und sich den Raum dafür zu nehmen. Theatermachen heißt auch herausfinden, wie man gemeinsam denkt und fühlt.

Diese Figur hat ein „Ich“, nicht bloß eine Funktion  

König Lear-Darsteller Alexander Ebeert im Gespräch 
 
Elisabeth Thaler: Die Rolle des König Lear ist eine große Aufgabe. Als du die Anfrage bekommen hast, diese Rolle in Bozen zu spielen, welche Gedanken gingen dir da durch den Kopf? 

Alexander Ebeert: Meine erste Reaktion war: Wann fangen wir an? Ich habe schon vor 20 Jahren in einer „König Lear“-Inszenierung gespielt und mir ist jetzt aufgefallen, dass ich viele Szenen nicht richtig gesehen und verstanden habe. Ich habe mich sehr gefreut, weil diese Rolle eine Aufgabe ist, die man selten bekommt. Und da geht es gar nicht so sehr um die Größe der Rolle, sondern um den Weg, den Lear durchmacht und der sehr viel mit dem Menschsein zu tun hat. Diese Figur hat ein „Ich“, nicht bloß eine Funktion. Sie startet an einem Punkt und endet an einem ganz anderen. Zudem sind Shakespeares Werke Texte, die endlose Arbeit ermöglichen – im besten Sinne. Darauf freue ich mich. 

ET: Braucht man für die Verkörperung des König Lear auch eine gewisse Lebenserfahrung? 

AE: Ich vermute schon. Es gibt Rollen, die ich vor 20 Jahren gespielt habe, wo ich mir heute denke, dass ich diese unbedingt noch mal spielen muss, weil ich ganz viel falsch gemacht habe, weil ich es damals nicht besser wusste. Ich bin schon gespannt, welche Fehler ich mir in 10 Jahren unterstellen werde. Man muss mit all der Erfahrung, die man mitbringt, so verantwortungsvoll wie möglich mit einer Rolle umgehen. 

Alexander Ebeert

ET: Das Stück beginnt, als Lear das Reich unter seinen Töchtern aufteilen möchte. Was vererbt Lear?  

AE: Lear denkt, er vererbt etwas, das immer so bestehen wird, wie es jetzt ist. Er versucht es genauso weiterzugeben. Und leugnet dabei, dass sich die Zeit und die Umstände verändert haben. Das erinnert an die seltsame Sehnsucht, die wir gerade auf der ganzen Welt spüren, nämlich den Versuch, etwas wieder zu installieren, das es so vielleicht nie gegeben hat – eine Ordnung, eine Zeit, die wir nicht so erinnern, wie sie wirklich war. Über Lear bricht alles zusammen, aus politischer Sicht, aber auch aus familiärer. Lear meint, seine Töchter zu kennen, hat sie aber nie verstanden. Deswegen ist die Enttäuschung Cordelia gegenüber zu Beginn des Stücks besonders groß. 

ET: Lear gilt als Protoyp des Tyrannen. Doch mit seiner jüngsten Tochter Cordelia verbindet ihn Liebe. Hat Lear auch eine weiche, liebende Seite?  

AE: Lear möchte lieben, aber zu seinen Bedingungen. Das ist der Fehler daran. Deshalb glaube ich, dass es nicht wahre Liebe ist. Wenn man liebt, dann lässt man los, sonst ist es keine Liebe. Zu Stückbeginn bricht eine Lebenslüge zusammen, denn Cordelia hält sich nicht an Lears Bedingungen. Seine Reaktion darauf ist Zerstörung: Wenn die Welt nicht unter meinen Bedingungen stattfindet, dann findet sie gar nicht statt. Wie kann man im Namen der Liebe so wütend werden, so biblisch zornig, dass man alle Konsequenzen in Kauf nimmt, auch den Tod der geliebten Tochter? Darüber denke ich viel nach. 

ET: Steht hinter diesem Zorn nicht auch ein System, nämlich das Patriarchat? Ist die Folge dieses Systems am Ende die Zerstörung? 

AE: Lear hat sein Leben lang in einem System funktioniert, dessen Regeln er kennt, auch wenn sie völlig falsch sein mögen. Das erinnert an die heutigen sog. Autokraten, die am liebsten alle Hebel der Welt in Bewegung setzen würden, um nie zu sterben. Ich glaube nicht, dass Putin, Erdogan oder Trump sich eine Welt ohne sich selbst darin vorstellen können. Und wenn es dann doch zu Ende geht, dann reißen sie so viel wie möglich mit sich, zerstören Systeme, Schulen, Menschenrechte … 

ET: … und hinterlassen verbrannte Erde. 

AE: Ja, und zwar völlig wissentlich, glaube ich, und mit großem Genuss.  

Elisabeth Thaler

ET: Gerade, wenn man den Bogen schlägt zu heutigen Machthabern, spielt der Aspekt des Wahns auch eine wesentliche Rolle. Sind Wahn und Macht zwei Seiten einer Medaille? 

AE: Ich glaube, Lears Wahnsinn ist weniger pathologisch begründet, sondern hat mit seelischem Schmerz zu tun und sicherlich auch mit Macht. Wir erleben einen völligen Zusammenbruch innerhalb kürzester Zeit. Wie ist das, wenn einem 70 Jahre lang alle gedient haben? Lear sagt an einer Stelle: „Sie sagten ja und nein zu allem, was ich sprach! Ja und nein zugleich war wohl nicht das Beste.“ Ich glaube, das kann man nur verstehen, wenn man Macht und die totale Ergebenheit aller um einen herum erlebt hat. Und plötzlich bricht das alles weg. Damit kann man sich Lears Wahn am Anfang wohl auch erklären. Er verbannt ja nicht nur seine Tochter, sondern auch seinen engsten Vertrauten, weil der ihm widerspricht und eine Gegenfrage stellt.  

ET: Hat er durch diese Macht auch den Bezug zur Wahrheit verloren? 

AE: Ja, weil es bisher nur seine Wahrheit gab.  

ET: Erst im Wahn erlebt Lear einen Moment der Wahrheit, als er den Menschen als Menschen erkennt. 

AE: Auf der Heide begegnet er dem „Irren“ und interessiert sich für ihn, weil er daran glaubt, dass dieser die Wahrheit spricht. Er nennt ihn „seinen Philosophen“. Er hört ihn, versteht ihn zwar nicht, nimmt ihn aber ernst, weil er spürt, dass da Wahrheit verborgen liegt. Er beginnt nachzudenken. Auch in den Gesprächen mit seinem Narren versucht er wirklich zu verstehen. 

ET: Der Narr ist eine wesentliche Figur in diesem Stück und mit Lear eng verbunden. Welches Verhältnis hat Lear zum Narren? 

AE: Wenn Lear in seinem Leben Zweifel zugelassen hat, dann gibt es diesen Freund oder Begleiter, der ihm in Form von verrätselten Denkanstößen manchmal auf die Sprünge geholfen hat. Der Narr kommt und die beiden führen einen Dialog, vielleicht auch zwischen zwei Menschen im Wahn. Ist der Narr nicht da, kann er eigentlich gar nicht weitermachen. Er ist ein Teil von ihm, den er institutionalisiert hat und der in einem gewissen Ausmaß Chaos zulässt. Er ist der einzige Mensch, der nicht zu allem ja und nein sagt und der einzige, dem Lear das gestattet. Und dann wird er ausgetauscht mit einem neuen Philosophen … 

ET: Am Ende des Stücks scheint die Welt dem Untergang geweiht. Wie gehen wir aus diesem Theaterabend raus? 

AE: Ich bin der Meinung, dass es die Aufgabe der Kunst ist, vielmehr etwas zu zeigen, als Antworten zu liefern. Bei Shakespeare sind die möglichen Erkenntnisse zahllos. Man kann sich für die Liebe interessieren, man kann sich für die Macht interessieren, man kann sich für Gerechtigkeit interessieren. Lear ist ein Stück über Machtstrukturen ebenso wie eine Familientragödie. Shakespeares Werke haben alle eine unglaubliche Tiefe und Abgründe, in die es sich lohnt, einzutauchen.  

ET: Vielen Dank für das Gespräch.  

Fotos: Luca Guadagnini

Alles nur Theater?

Spielzeitpräsentation 2025/26 am 4. Juni im Waaghaus Bozen

„Mit Freude blicken wir auf eine erfolgreiche Spielsaison 2024-25 zurück, in welcher das Team der Vereinigten Bühnen Bozen unter der Intendanz von Rudolf Frey das Theater in einer vielfältigen, innovativen Formensprache zeigte. Die restlos ausverkaufte Eröffnungsproduktion „Die 7 Tage von Mariahaim“ hat bewiesen, dass es die Vereinigten Bühnen Bozen verstehen ein Theatererlebnis auch an alternativen Orten spektakulär greifbar zu machen. Es folgten Stücküberschreibungen klassischer Dramen, progressive zeitgenössische Dramatik, Theater für Kinder und Jugendliche, ikonisches Broadway Musical, sowie zuletzt die begeistert aufgenommene Uraufführung der Romanadaption „Ein Hund kam in die Küche“ von Sepp Mall.  

Der Zuspruch des Publikums lässt sich an einem sehr zufriedenstellenden Gesamtergebnis messen: es ist uns gelungen, eine Steigerung der Besucher:innenzahlen um 28% im Vergleich zur Spielzeit 2023-24 zu erzielen und konnten insgesamt mehr als 16.000 Menschen bei Vorstellungen der Vereinigten Bühnen Bozen begrüßen. Die Zahl der Abonnent:innen konnte konstant auf gesamt 280 Abos gehalten werden, ein Drittel davon ist unter 35 Jahren.“ 

 -Judith Gögele, Präsidentin der Vereinigten Bühnen Bozen 

“Vorhang auf! Unsere Welt befindet sich in einer sogenannten Multikrise – eine sich wechselseitig beeinflussende krisenhafte Weltlage: Kriege, Klimawandel, Wirtschaftslage und ein bedrohlicher Kulturwandel in Teilen der Gesellschaft fordern uns als Kultur- und Theaterschaffende dieser Realität zu begegnen. Alles steht auf dem Spiel: In der neuen Spielzeit 2025/26 sind wir mehr denn je aufgerufen, die uns umgebende Welt mit der Urkraft der künstlerischen Mittel des Theaters auf die Bühne zu übersetzen. Wir öffnen die Tür zu neuen Wahrnehmungsweisen. Mit den vielfältigen Produktionen dieser Spielsaison berühren wir Themengebiete wie: Krise und Selbstfindung, Gesellschaft und Verantwortung, Identität und Traumata der Vergangenheit, sowie Absurdität und Verwirrung der Realität. Shakespeares  “König Lear”, einem der geheimnisvollsten und vielschichtigen Werke der gesamten Theaterliteratur, gibt den Startimpuls für die diesjährige Reihe von packenden, sinnlichen Aufführungen, in denen sowohl zeitgenössische Formen (wie „Blutbuch” – der Sensationserfolg der Literaturwelt der letzten Jahre) als auch die multidisziplinäre Aufbereitung klassischer Titel “Fabian oder Der Gang vor die Hunde” von Erich Kästner gezeigt werden. Der Bogen schließt sich mit “Im weissen Rössl”, einer großen unterhaltsam-musikalischen Hommage an Erik Charell und die Berliner Operette. In den Ensembles auf unseren Bühnen spielen in dieser Saison die herausragenden Kräfte der Südtiroler Theaterlandschaft, wiederkehrende Gäste aus dem deutschsprachigen Ausland, sowie internationale Protagonist:innen mit Bezug zur Region wie Gerti Drassl und Tobias Moretti.” 

-Rudolf Frey, Intendant der Vereinigten Bühnen Bozen 

  Fotos: Luca Guadagnini

FF-Talks „Weitsicht Medien – Wer wird uns in Zukunft informieren?“

in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen

Am 7. Mai 2025 drehte sich bei den FF-Talks im Stadttheater Bozen – in unserem Bühnenbild von „Ein Hund kam in die Küche“ – alles um die Zukunft der Medienlandschaft. Zwischen Algorithmen, Big Tech und journalistischer Verantwortung diskutierten Expert:innen aus Wissenschaft und Medienpraxis, wie sich unser Zugang zu Informationen verändert – und welche Folgen das für unsere Demokratie hat.

Mit einem Impulsreferat eröffnete Prof. Martin Andree („Game Over, Democracy?“) den Abend. Es folgte eine Podiumsdiskussion mit Jannis Brühl (SZ), Esther Mitterstieler (ORF), Hans Karl Peterlini, Uta Rußmann und Martin Andree, moderiert von Verena Pliger (ff). 

Vielen Dank an alle Mitwirkenden und Gäste für die spannenden Einblicke, Denkanstöße und inspirierenden Gespräche beim anschließenden Aperitivo!

Fotos: Live Style Agentur 

„Keine Erinnerung zu haben an gestern, hieße, keinen Boden unter den Füßen zu haben.“

Autor Sepp Mall im Gespräch

Elisabeth Thaler: Was hat Dich veranlasst, Deinen Roman in der Optionszeit zu verankern und das Thema der NS-„Euthanasie“ an Südtiroler Kindern miteinzubeziehen?

Sepp Mall: Ich bin da irgendwie reingerutscht in diese Themen. Natürlich hat mich als Schriftsteller immer schon das Einwirken von Geschichte auf den Einzelnen interessiert. Und dann waren da Zufälle: In der Vorbereitung auf den Roman bin ich u. a. auf zwei Bücher gestoßen – Josef Feichtingers „Flucht zurück. Eine Auswandererkindheit“, in welchem er seine persönlichen Erinnerungen an die Option niedergeschrieben hat, und „Agnes, Ida, Max und die anderen“, eine Sammlung von Aufsätzen zur NS-Kinder-„Euthanasie“ in Südtirol. Die Schicksale, die hier dokumentiert bzw. erzählt werden, haben mich mich bewegt, auch schockiert – und letztlich war das wohl der Anlass, mich literarisch damit zu beschäftigen, also „meine“ Geschichte dazu zu erzählen.

Die Themen des Romans (Heimatverlust, Abschied, Sprachlosigkeit …) weisen über die Historie hinaus und schlagen eine Brücke ins Heute. Welche Denkanstöße wolltest Du in Bewegung setzen?

Ich habe beim Schreiben immer wieder daran denken müssen, dass vieles, was die „Optanten“ erlebt haben, sich heute überall auf der Welt wiederholt. Stichwort „Migration“.  Auch viele der heutigen „Wanderer“ werden das Leid des Abschiednehmens erfahren so wie Ludi im Roman, genauso Skepsis und Ablehnung an den Orten, wo sie hinkommen. Auch die Versuche, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden und die oft unerfüllbaren Träume von einem besseren Leben, all das wiederholt sich auf die eine oder andere Weise.

Foto: Minitta Kandlbauer

Das Buch ist aus der Perspektive des Kindes Ludi erzählt. Warum hast Du diese Erzählweise gewählt und welche Freiheiten hat sie Dir geschenkt?

Freiheiten, durchaus! Die „naive“, kindliche Darstellung der Umstände, des Krieges, der Brutalität und der vielen Abschiede im Zuge der Umsiedlung schien mir direkter und auch emotionaler als eine erwachsene, informierte Erzählung, somit vielleicht nachvollziehbarer. Zudem ergeben sich aus dem Nichtwissen oder Halbwissen des Kindes viele erzählerische Leerstellen, die Leserinnen und Leser mit ihren Kenntnissen oder Vermutungen füllen müssen. Ich habe also einiges an Interpretation anderen zuschieben können – etwa den Umgang mit ideologisierten Begriffen wie „Heimaterde“ oder die Geschichte mit dem „deutschen Blut“.

„Ein Hund kam in die Küche“ ist ein Baustein der Südtiroler Erinnerungskultur. Was bedeutet Dir Erinnerung?

Erinnerung ist einer der wichtigsten Grundlagen für das Handeln von uns allen. Nur aus der Erinnerung heraus, aus der persönlichen Erfahrung oder der kollektiven Erinnerung heraus verstehen wir, wer wir sind, was wir tun oder lassen sollen. Sie konstituiert in entscheidender Weise eine Persönlichkeit oder das Wesen eines Kollektivs. Keine Erinnerung zu haben an gestern, an die eigene Herkunft und im übertragenen Sinne an die Geschichte deiner Region, das hieße, keinen Boden unter den Füßen zu haben. Aber weil Erinnerung und die Bewahrung derselben oft auch trügerisch ist, wird halt alles etwas komplizierter…

Alles, was nicht der Norm entspricht, macht uns nervös

Regisseurin Mira Stadler und Elwood-Darsteller Marcel Heuperman über “Mein Freund Harvey”, “Normalität” und eine Leerstelle (…)

(Marianne Fischer/Kleine Zeitung) 

Der liebenswerte Elwood hängt mit seinem besten Freund Harvey gerne in seiner Lieblingskneipe ab. Das Problem dabei: Harvey ist ein zwei Meter großer Hase, der von anderen nicht gesehen wird. Das sorgt vor allem in Elwoods Familie, die um ihren guten Ruf besorgt ist, für zahlreiche Turbulenzen. Das Stück von Mary Chase war in den 1940er-Jahren ein großer Broadway-Erfolg, die Verfilmung mit James Stewart wurde zum Klassiker.  

Warum bringt dieser Elwood die Menschen um sich herum so aus der Fassung? 

Marcel Heuperman: Alles, was nicht der Norm entspricht, macht uns nervös. Wir sehnen uns als Menschen nach Sicherheiten. Gerade in schwierigen Zeiten gibt es ein wahnsinniges Bedürfnis nach festen Strukturen. Da ist diese Komödie ein wunderbares Plädoyer, ein Stück zur Seite zu gehen und zu fragen: Was sagt es über uns aus, dass uns dieser sympathische Elwood wahnsinnig macht? 

Elwood und Harvey als Sinnbilder für die Gesellschaft? 

Heuperman: Harvey ist ein Sinnbild für eine Leerstelle in der Gesellschaft und das ist ein spannender Kniff im Stück. Wir werden auf humorvolle Art und Weise permanent darauf hingewiesen, genau hinzuschauen, keine vorschnellen Urteile zu fällen und offen zu sein für das Andersartige. 

Wie inszeniert man eine Leerstelle? 

Mira Stadler: Indem man eine große Not in den anderen Figuren erzeugt. Denn Elwood hat diese Not nicht. Das ist das Einzigartige an dieser Komödie: Nicht die Hauptfigur befindet sich in einem Konflikt, sondern die anderen. 

Und wie spielt man eine Leerstelle? 

Heuperman: Man muss ganz genau wissen, was dieser nicht vorhandene Harvey gerade macht, wo er sitzt, wo er hinschaut. Ich musste quasi parallel eine zweite Figur mitentwickeln, denn nur, wenn ich entsprechend reagiere, sehen das auch die Zuschauer. Das ist eine wahnsinnige Herausforderung und im besten Sinne analoges Theater, denn nur durch die Kraft des Schauspiels entsteht die Titelfigur des Stückes. 

Und wer ist in dem Stück nun das, was man gemeinhin normal nennt? 

Heuperman: Wer definiert, was normal ist und was nicht normal ist? Ich weiß auch nicht, was die größere Beleidigung oder das größere Kompliment ist. Das sind jedenfalls alles Bewertungen von außen. Dieser Elwood hat eine gewisse Magie. Er hört wirklich zu, ist interessiert am Gegenüber. Darum geht es ja, sich wirklich zu begegnen, jeden Moment zu genießen, zu entschleunigen. Das zeichnet diese Figur aus. (…) 

Unlearn Patriarchy 

Dramaturg Daniel Theuring interviewte die erfolgreiche Südtiroler Theaterautorin Anna Gschnitzer vorab.

Daniel Theuring: Liebe Anna. Als ich „Capri“ und „Die Entführung der Amygdala“ von dir zwischen die Finger bekam, da musste ich diese beiden Monologe auf einen Schlag durchlesen und man hat mich immer wieder amüsierte Äußerungen dabei machen hören. Das ist eine Qualität, die ich leider nicht so oft auf den Tisch bekomme. Gleichwohl hast Du damit ein großes Fass angestochen. Gender Care Gap und Auflösung des Patriarchats, das sind große, topaktuelle Brocken. Wie kamst du darauf? 

Anna Gschnitzer: Ich schreibe häufig über Themen, die mich selbst betreffen. Auch wenn meine Texte nicht autobiografisch sind, behandeln sie meist Stoffe, die ich in meinem Umfeld beobachte. Vor vier Jahren wurde ich Mutter, und mein Leben – vor allem meine Perspektive darauf, wie wir uns als Gesellschaft umeinander kümmern – hat sich schlagartig verändert. Besonders wurde mir bewusst, wie sehr ich patriarchale Strukturen verinnerlicht hatte und wie stark ich beruflichen Erfolg und Karriere mit Emanzipation und Empowerment gleichsetzte. Doch dass dabei kein Raum für Sorgearbeit und Verletzlichkeit bleibt, kann man nicht lange ignorieren, wenn man Mutter wird. 

Lange habe ich dem Karriere-Feminismus geglaubt, dass man „alles haben kann“ – solange man nur emanzipiert, solange man nur empowert genug ist. Im Grunde ist das die alte neoliberale Leier: Wenn man nur hart genug arbeitet, klappt es schon. Doch die Realität sieht anders aus. Kein Individuum, keine noch so gleichberechtigt gelebte Elternschaft kann allein gegen Strukturen ankommen, die Care-Arbeit systematisch abwerten. Die viel gepriesene „Vereinbarkeit“ von Beruf – und allem, was damit verbunden ist: finanzielle Unabhängigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Selbstwirksamkeit – und Care-Arbeit bleibt eine Illusion, weil Letztere in unserer Gesellschaft keine echte Wertschätzung erfährt. 

Ich habe verstanden, dass es eine grundlegende Veränderung braucht – eine, die nicht (nur) beim Individuum ansetzt, sondern bei unserem gesellschaftlichen Umgang mit Verletzlichkeit. Denn als sorgebedürftige Wesen sind wir alle aufeinander angewiesen. 

DT: Und warum in dieser Form und Struktur? 

AG: Ich wollte einen Monolog schreiben, weil ich durchspielen wollte, wie ein Individuum vor vielen Menschen (dem Publikum) steht und eine direkte Beziehung zu ihnen eingeht. Dabei macht sich diese Person extrem verletzlich und riskiert alles. 

Am Ende bleibt offen, wie das Publikum mit dieser Verletzlichkeit umgeht – ob es vielleicht den Transfer zur eigenen Verletzlichkeit und Verantwortung schafft. Ich wollte die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Struktur und Individuum wie in einer kleinen Versuchsanordnung für einen Theaterabend denken, dessen Ausgang offen bleibt. 

DT: Da wir alle von einer Jahrtausende alten patriarchalen Gesellschaft gelehrt, geformt und geprägt wurden, liegt die Chance für Feminismus und die Auflösung des Patriarchats wirklich in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in der Familie und vor allem in der heteronormativen Beziehung, aus der Kinder hervorgegangen sind? 

AG: Mit der Zementierung der heteronormativen Kleinfamilie als einzige mögliche Organisationsform sozialer Gemeinschaft wurde Care-Arbeit entwertet, privatisiert und vor allem als unbezahlte Aufgabe Frauen überlassen. Dies geschah unter der Prämisse des Patriarchats, dass Frauen „von Natur aus“ – also aufgrund zugeschriebener biologischer Merkmale – dazu bestimmt seien, sich um andere zu kümmern. Ich glaube also, um das Patriarchat zu überwinden, müssen wir bei der Kernfamilie ansetzten. 

Ich halte es deshalb für essenziell zu verstehen, warum die Kleinfamilie in ihrer Struktur und ihrem Kern problematisch ist. Gleichzeitig lebe ich selbst in diesem Modell und frage mich, wie ich Familie so verändern kann, dass sie ihre patriarchalen Strukturen sprengt. Falls ich herausfinde, wie das geht, melde ich mich nochmal 😉 

DT: Ist die Amygdala patriarchal? 

AG: Ich habe mich mit diesem Teil des Gehirns beschäftigt, weil Studien gezeigt haben, dass die Amygdala auf ihr Umfeld reagiert und sich entsprechend verändert – insbesondere durch die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen, etwa für ein anderes Lebewesen. Der Körper passt sich den Aufgaben an, die ihm zugeteilt werden. Eine „natürliche“ biologische Veranlagung gibt es in diesem Sinne also nicht. 

Ich fand es spannend, wie sich Sozialisation in den Körper einschreibt – und dass es sich dabei um etwas handelt, das veränderbar ist. 

 DT: Siehst du dich als Feministin? 

AG: Ja.  

DT: Frauen  und FLINTA- Personen leiden in erster Linie an diesen Missständen, aber auch Männer werden im Unternehmens- und Arbeitsalltag leider immer wieder davon unter Druck gesetzt. Die toxischen patriarchalen Strukturen sind dabei ein ganzheitliches Problem unserer Gesellschaft, die leider sogar allzu gerne von Menschen, die selbst durch ihre Veranlagung an die Ränder unseres Miteinander gedrängt werden, bedient werden. Nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern leider auch in kulturellen Bereichen wie dem Theater. Wie können wir das überwinden? 

AG: Indem wir uns mit anderen Menschen verbinden, denen es ähnlich geht, aber auch Allianzen mit jenen schmieden, die an anderen Stellen kämpfen. Indem wir viel zuhören, Raum geben und überlegen, wie sich alle an der Diskussion beteiligen können – auch wenn das bedeutet, selbst erst einmal nichts zu sagen. 

Als Gesellschaft können wir nur durch Solidarität etwas bewirken. Wir müssen verstehen, dass, selbst wenn uns ein Thema persönlich nicht betrifft, wir letztlich alle von einer gleichberechtigten Gesellschaft profitieren. 

DT: Yael Ronen behauptet in ihrem Werk „Slippery Slope“ über das Patriarchat: „Once you see it, you can’t unsee it”. Glaubst du mit “Die Entführung der Amygdala” auch hierfür sensibilisieren zu können? 

AG: Das wäre schön. Das Stück wurde bereits an zwei anderen Theaterhäusern inszeniert, und bei den Vorstellungen sowie den Nachgesprächen waren viele Frauen und Mütter anwesend. Da fielen oft Sätze wie: „Ich werde meiner Mutter, Tochter, Freundin etc. von diesem Stück erzählen – sie muss es unbedingt sehen.“ 

Ich glaube, genau dieses Moment – das Wiedererkennen der eigenen Geschichte oder von Teilen davon auf der Bühne und das Gefühl, dass diese Geschichte auch von anderen gesehen wird – kann viel bewirken. Es kann Kräfte freisetzen, aber vor allem verdeutlichen, dass es sich nicht um ein individuelles Schicksal handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Und genau das macht es leichter, sich weniger allein zu fühlen, in Verbindung zu kommen, in die Solidarität, die Kraft. 

DT: Ich glaube, dass der erste Schritt Reflexion sein muss. Habe ich Diskriminierung erfahren oder bin ich durch ein Erlebnis für patriarchale Strukturen sensibilisiert worden und kann ich sie benennen, dann kann ich lernen, damit umzugehen. Wie der Fisch im Wasser, der sich des Wassers bewusst ist. Oder? 

AG: Ja, genau. Je mehr wir uns bewusst werden an welchen Stellen wir vielleicht Dinge reproduzieren, die wir eigentlich ablehnen, oder die uns selbst schaden, desto öfter gelingt es uns auch anders zu handeln, uns bewusst zu entscheiden und uns dadruch mit anderen zu verbinden.  

DT: Ich wünsche mir für unsere Zukunft, dass wir diese toxischen Verhaltensweisen endlich ablegen, verlernen können, um tolerant und frei von Vorurteilen friedlich miteinander leben können. Oder meinst du, das ist zu kurz gedacht? 

AG: Ich glaube an Utopien – und daran, dass sie scheitern dürfen. Denn gerade ihr Scheitern ist der Grund, warum wir immer weiter an ihnen arbeiten müssen. Je weiter eine Utopie entfernt scheint, desto mehr müssen wir an sie glauben. 

DT: Was schlägst du vor? 

AG: Sich kurz auf den Boden zu legen, das beruhigt das Nervensystem. 

HIV/AIDS – damals und heute 

Michael Peintner aus dem Bereich sexuelle Bildung und Psychotherapie / Sexualtherapie hat als vorbereitende Maßnahme des Musicals RENT von Jonathan Larson dieser Produktion einen Workshop für die richtige Einordnung von HIV und AIDS und sexueller Gesundheit abgehalten. Im Musical RENT geht es um junge Künstler:innen Bohemiens im New York Mitte der 90er Jahre, die durch HIV / AIDS, Gentrifizierung, Drogen und Obdachlosigkeit bedroht werden. Damit alle im Probenprozess vom gleichen Wissensstand ausgehen können, hat Michael Peintner eindrucksvoll und interessant alle Vorurteile, Stigmatisierungen und Fehlinformationen auf diesem Bereich für uns alle klären können. Dramaturg Daniel Theuring nutzte daher die Chance, ein Interview mit ihm zum selben Thema für Sie zu führen, denn auch Sie, liebes Publikum sollen von dieser spannenden und ganzheitlichen Aufklärung profitieren dürfen. 

Daniel Theuring: Lieber Michael Peintner, du hast dich der sexuellen Bildung -dazu gehört auch Aufklärung zur sexuellen Gesundheit- und Psychotherapie verschrieben. Wie kam es dazu? 

Michael Peintner: Ich habe mich schon sehr früh -v.a. aus persönlichen Gründen- mit dem Thema „Sexualität“ auseinandergesetzt, da ich bereits in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter merkte, dass ich mich als „anders“ wahrgenommen hatte, gelernte Normen sich nicht stimmig anfühlten und ich nicht heteronormativ leben konnte/wollte. Nichtsdestotrotz oder vor allem deswegen hatte und habe ich für mich immer schon einen positiven Zugang zu meiner Sexualität gefunden und zwar jenseits von heteronormativen Konstrukten. Somit habe ich mich in den Bereichen sexuelle Bildung und Psychotherapie/Sexualtherapie qualifiziert, um andere Menschen aller Altersgruppen, Orientierungen und Identitäten wertschätzend, achtsam und respektvoll zu begleiten, damit sie ihren Weg zu einer selbstbestimmten, gesunden und stimmigen Sexualität finden können.  

DT: Es gibt ja nicht nur HIV, wodurch viele Menschen stigmatisiert und diskriminiert wurden und immer noch werden, sondern auch eine ganze Reihe von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Was kursiert denn da alles so noch und wie wirkt sich das aus? 

MP: Alle sexuell übertragbaren Krankheiten werden zusammengefasst unter den Fachbegriffen STI (sexually transmitted infections) oder STD (sexually transmitted deseases). Am meisten kursieren Lues (Syphillis), Gonorroeh (Tripper), Chlamydien, Kondylome (Feigwarzen), Herpes genitalis und Filzläuse. Im Unterschied zu HIV sind diese alle heilbar (meistens mit Antibiotika), sofern die Erreger rechtzeitig erkannt werden.  

Auch HPV (humanes Papillomvirus), Hepatitis B und C sind nicht selten. Bei rechtzeitiger Diagnose sind auch diese heilbar. Gegen HPV und Hepatitis B schützt ebenfalls eine Impfung. 

DT: Was ist der Unterschied zwischen HIV und AIDS? Wann, warum und wie hat uns diese Pandemie erfasst? 

MP: HIV (Human Immunodeficiency Virus; zu deutsch: humanes Immundefizienz-Virus) ist der Erreger, der die Krankheit AIDS (Acquired Immuno Deficiency Syndrome, zu deutsch: erworbenes Immunschwächesyndrom) auslösen kann. Das bedeutet, dass ein Mensch, der eine HIV-Infektion hat, noch nicht automatisch die Krankheit AIDS hat. Aber wenn eine HIV-Infektion unentdeckt und/oder unbehandelt bleibt, dann entsteht in den meisten Fällen die Krankheit AIDS, die das Immunsystem angreift und schwächt.   

HIV wurde 1983 erstmals von französischen Virolog:innen isoliert. Aber bereits im Jahre 1981 sind v.a. in den USA seltsame Lungenentzündungen mit Anschwellen der Lymphknoten aufgetreten. Das Virus hat sich dann sehr schnell weltweit verbreitet und die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in der Konsequenz bereits in den 1980er Jahren die AIDS-Pandemie ausgerufen, in der wir offiziell immer noch sind. 

Michael Peintner ©Michael Peintner

DT: Leider hält sich das Vorurteil hartnäckig, dass es sich bei HIV und AIDS um eine „Schwulenseuche“ handle. Warum? 

MP: Die ersten HIV-Infektionen in den USA (und später auch bei uns) betrafen v.a. Männer, die Sex mit anderen Männern hatten. Da damals (und teilweise noch heute) v.a. in den USA -angefeuert durch verschiedene klerikale fundamentalistische Gruppierungen- eine massive homophobe Gesellschaft vorherrschte, wurde dort ein weiterer „Grund“ gefunden, um gegen schwule Männer zu hetzen. Und der extrem abwertende diskriminierende Begriff „Schwulenseuche“ war geboren. Zum Glück findet sich dieser Begriff in den west-, mittel- und nordeuropäischen Ländern fast überhaupt nicht mehr. Wir wissen ja mittlerweile, welche unterschiedlichen Infektionswege es gibt. Und neben Männern, die Sex mit Männern haben, gibt es ja auch noch andere Risikogruppen, wie z.B. suchtabhängige Menschen, die unsterile Spritzen benutzen. Und ich spreche bewusst NICHT von schwulen Männern als Risikogruppe, sondern von Männern, die Sex mit Männern haben. Das ist nämlich nicht das gleiche: Männer, die grundsätzlich romantisch und/oder sexuell heterosexuell leben (und sich nicht als „schwul/homosexuell/gleichgeschlechtlich orientiert“ definieren) können (ab und zu) Sex mit anderen Männern haben und gehören somit zur Risikogruppe.  

DT: Wie kann HIV in der aktuellen Zeit am meisten übertragen werden? 

MP: Da muss noch unterschieden werden, von welcher geographischen Zone wir reden. In der EU sowie USA und Kanada erfolgen die meisten Infektionen durch Geschlechtsverkehr, v.a. bei Männern, die Sex mit anderen Männern haben. In Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken wird HIV neben den sexuellen Übertragungswegen noch vermehrt durch unsterile Spritzen übertragen. Auch in den dortigen Gefängnissen ist HIV weit verbreitet. In diesen Ländern ist aber HIV/AIDS teilweise noch stark tabuisiert und es fehlt an flächendeckenden Aufklärungskampagnen. In Afrika ist die gesamte Bevölkerung quer über alle Altersgruppen (auch Kinder) und soziale Schichten von HIV-Infektionen betroffen. Das liegt einerseits an mangelnder Aufklärung und andererseits an fehlender bzw. unzureichender medizinischer Versorgung. 

DT: Das Musical RENT von Jonathan Larson wurde 1996 uraufgeführt. Larson zeigt darin eine WG von Künstler:innen, die sich als Bohemiens verstehen, die durch HIV/AIDS, Drogenabhängigkeit und Geldnöte bedroht werden. Der/die Zuschauer:in begleitet sie genau ein Jahr und erlebt mit, wie einige davon dieses Jahr nicht überleben. Larson hat es sehr belastet, dass einige seiner Freund:innen auch an AIDS gestorben sind, was ihn dazu veranlasst hat, RENT zu schreiben. So wie ich dich bei unserem produktionsvorbereitenden Workshop „HIV/AIDS – damals und heute“ verstanden habe, war 1996 auch das Jahr, in dem sich das grundlegend geändert hat. Warum? 

MP: Bis 1996 sind Menschen mit HIV an den Folgen von AIDS gestorben, weil nur Symptome behandelt, aber nicht das Virus selbst bekämpft werden konnte. 1996 kam es zu einer deutlichen Zäsur: Es wurde die sog. antiretrovirale Therapie entdeckt. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus 2-3 verschiedenen Medikamenten, die tagtäglich eingenommen werden müssen. Das Virus kann damit zwar nicht getötet, aber es kann soweit in Schach gehalten werden, dass es sich im Körper nicht mehr ausbreiten kann. Das HI-Virus schlummert sozusagen im Körper und ist nicht aktiv. Seit 2020 können sich HIV-infizierte Menschen anstatt der Tabletten auch für 2 Spritzen entscheiden, die alle 2 Monate im Gesäßmuskel vom medizinischen Personal verabreicht werden. 

DT: Wie kann ich mich heute vor einer Infektion mit HIV schützen? 

MP: Zum einen schützt die korrekte Verwendung des Kondoms vor einer HIV-Infektion. Seit 2016 gibt es für Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko die PrEP (Präexpositionsprophylaxe). Am sichersten ist die tägliche Einnahme dieses Medikamentes, das vor einer HIV-Infektion schützt, nicht aber vor den anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. 

DT: Wie sollen in der heutigen Zeit Präventionskampagnen gestaltet werden, um Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu reduzieren? 

MP: Die aktuellen Präventionskampagnen haben das Ziel, ALLE Menschen anzusprechen (unabhängig von der sexuellen/romantischen Orientierung) und ebenfalls zu ALLEN sexuell übertragbaren Krankheiten zu informieren. Es geht v.a. darum, die Menschen zu motivieren, sich regelmäßig testen zu lassen. Bei rechtzeitiger Diagnose kann die betroffene Person effizient behandelt und weitere Infektionen durch diese Person können verhindert werden. Auch wenn HIV nicht heilbar ist, können HIV-infizierte Menschen, welche durch eine Therapie eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, andere Personen nicht infizieren. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO gelten Menschen mit einer HIV-Infektion, welche eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, als gesund. 

Vielen Dank für das Interview!  

Das Publikum emotional packen 

Martin Finnland, Künstlerischer Leiter des Kollektivs „Nesterval“ und Regisseur von „Die 7 Tage von Mariahaim“ über immersives Theater und die Arbeit in Bozen. 

Elisabeth Thaler: Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform? 

Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.  

Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt? 

Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht… 

Martin Finnland ©Alexandra Thompson

Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“? 

Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.  

Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern? 

Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte.