Raumbühne – Totaltheater!

Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als die darstellende Kunst im Theater in Technik und Architektur ihren Zenit erreichte, strebte man die Idee des Totaltheaters an, die der Bauhausleiter Walter Gropius gemeinsam mit Erwin Piscator entwickelte. Das Totaltheater forderte, ganz wie die Architektur die „Zerschlagung der Kiste”. Die aufkommende Technik der Filmprojektion war darüber hinaus dazu gedacht, den Raum aus allen Richtungen „unter Film zu setzen“. Leider konnte das Totaltheater damals aus Kostengründen nicht realisiert werden, aber die Technik und die fortschrittlichen Ideen, die sich um dieses Projekt rankten, kann man heute immer wieder in modernen Musik- und Schauspieltheaterinszenierungen wiederfinden. Aber wenn eine Raumbühne erst einmal in einem normalen Theater im Zuschauerraum aufgebaut ist, dann kann das für den Theateralltag auch eine Belastung darstellen. Denn ein Theater, das jeden Tag ein anderes Stück auf dem Spielplan hat, wird durch eine Raumbühne blockiert. Die Technik kann so einen Bühnenaufbau im Zuschauerraum nicht an einem Tag abbauen und ein anderes Theaterstück auf der Bühne aufbauen. Das geht nur mit den Bühnenbildern, die herkömmlich für die bestehende Theaterbühne gebaut und geplant wurden; dafür sind unsere Theater konzipiert mit ihren Seiten- und Hinterbühnen, auf denen mehrere Bühnenbilder gelagert werden können.  
„Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann, mit dem die Vereinigten Bühnen Bozen die Spielzeit 2023/2024 eröffnen, wurde vom ukrainischen Bühnen- Kostümbildner und freien Künstler Ivan Bazak gemeinsam mit Regisseur Alexander Charim als Raumbühne konzipiert. Da in unserem Theater ein Theaterstück am Stück gespielt wird, also auch keine Umbauten während dieser Zeit nötig sind, können wir uns so eine aufwendige Bühnenkonstruktion mit all ihren Vorzügen leisten. Bazak hat sich als Sujet für die Bühne den genuinen Zuschauerraum unseres Stadttheaters vorgenommen, den er skurril und surreal verzerrt darin widerspiegelt, so wie aus der Perspektive eines Fiebertraums, den die Hauptfigur Gustav von Aschenbach am Beginn der Novelle durchlebt. Als Publikum werden Sie sich in diesem Setting auf der eigentlichen Theaterbühne wiederfinden und sich der Raumbühne im Zuschauerraum gegenübersehen. Das Haydn Orchester von Bozen und Trient wird nicht versteckt im Orchestergraben sitzen und musizieren, sondern gemeinsam mit den Darsteller:innen dieses Totaltheater bespielen und beschallen. Die Musiker:innen werden sich dabei auch in diesem Raum bewegen als Fernorchester aus dem Theaterfoyer zu hören sein und schließlich im Zuschauerraum auftreten. Zudem hat diese besondere Bühnenform einen ganz klaren und schönen Vorteil im Gegensatz zu unseren herkömmlichen Bühnensituationen mit ihren Logen und Rängen: Sie ist so demokratisch, wie die Griechen einst in ihren Amphitheatern das Theater erfunden haben. Diesen Vorteil hat auch der Kassler Staatstheaterintendant Florian Lutz für sich wiederentdeckt, als er Intendant der Oper in Halle war, um der politischen Situation in den neuen Bundesländern im Theater eine neue demokratische Basis zu bieten, die es uns Zuschauer:innen ermöglicht, wieder auf einer Ebene ins Gespräch kommen zu können. So erzeugt das Totaltheater auf der einen Seite, dass das Gesamtkunstwerk der Bühnenkunst sichtbar wird und dass wir Zuschauer:innen Teil des Ganzen sind und im Streben nach Überwältigung gleichzeitig demokratisch-kritische Reflexion, Jammer und Schauder bis hin zur Reinigung erfahren können. 

Daniel Theuring, Dramaturg 

Foto: Luca Guadagnini