Vor mir weint der Turm 

Anmerkungen zu meiner Recherche 

von Thomas Arzt 

Meine erste Notiz: „Eine Frau kehrt zurück an den Ort eines Verbrechens.“ Am Ende dieser ersten Skizze (November 2021) hatte ich vermerkt: „Ein Gefüge von Wissenden und Verbergenden“. 

Rückblende: Die erste Begegnung mit dem See ist ein Film ohne Ton. Ich sitze im Zug, fahre zu einer Theaterprobe. Die Kopfhörer habe ich vergessen. Ich möchte niemanden stören. Also schaue ich mir die Dokumentation über „Das versunkene Dorf“ mit Untertitel an. Ich versinke in den Aufnahmen der Seeoberfläche. Und in den Gesichtern von Menschen, die aus ihrem Leben berichten. Ich höre sie nicht. Aber untersuche ihre Mimik. Alles wird mit zwei unterschiedlichen Augen erzählt: einem lachenden und einem weinenden. 

Die Rückfahrt: Mir geht der See nicht mehr aus dem Kopf. Ich skizziere ein zu langes Drama mit zu vielen Figuren an zu vielen Schauplätzen. Keine „Opfererzählung“! Keine Dokumentation des bereits Dokumentierten. Ich verliebe mich in die Geschichte eines Ingenieurs, den es nie gab. Finster schillernd, faustisch verloren, nur zu retten durch eine Lichtgestalt, seinen Assistenten. Der Staudamm soll keine Gefahr sein, sondern eine Vision, die Glück verspricht! Zugleich zögere ich. Was wird aus den realen Biografien? Wie der tatsächlichen Geschichte gerecht werden? 

Autor mit Turm, März 2023 

Ich rufe Rudi Frey an. Ich sage ihm, mein PROJEKT RESCHENSEE habe sich verändert. Ich hatte ursprünglich vor, „sicher nichts Historisches“ zu schreiben. Nun sitze ich ausschließlich am Historischen. Ich schreibe über die 1920er bis 1960er Jahre in Südtirol. „Eine elendslange Parabel! Es geht um Fortschrittsfanatismus und Krieg.“ Wir verabreden uns in Wien, reden darüber, dass Südtirol ein „sonnenbeschienenes“ Land sei. Dass es wirklich viele Sonnentage gibt. Dass die Schatten nicht verschwinden. Und dass Vieles über Südtirol gesagt ist, aber meistens in Stücken mit Bauernstuben. Ich verlege meine Szenen nach draußen in die Natur. 

Sommer 2022, Nationalbibliothek Wien: Ich lese über den Stauseebau. Über politische Eingriffe in ein regionales Gefüge. Über Industriezonen und Bergdörfer. Macht und Ohnmacht. Faschismus, Nationalsozialismus, Widerstand, Opportunismus, „Option“, Flüchtende, Umgesiedelte, Gebliebene, „Außig’wasserte“, Tote, Vergessene. Über Hoffnung und Technik. Wohlstand und Profit. Vision und Wasserkraft. Autonomie und Lügen. Ich merke: Südtirol verstehe ich viel zu wenig. 

Ich recherchiere: Es gibt 20 „Südtiroler Plätze“ in Österreich. 2 in Deutschland. Ich verstehe erstmals die Zusammenhänge besser. 

Ich lerne, manche sagen „Terroranschlag“, andere „Freiheitskampf“, manche sagen „Europapolitik“, andere „Heimatverrat“. Ich lese von Duce-Verehrung, skurriler Geschichtsvergessenheit, nostalgischer Brauchtumspflege, Denkmaldiskurs und extremem Aktivismus. Ich verwerfe mein Konzept. Das ist alles zu viel!  

Wieder eine Zugfahrt: Ich streame alle vier Teile des Filmepos „Verkaufte
Heimat“ (Regie: Karin Brandauer/Gernot Friedel, Buch: Felix Mitterer), online
abrufbar auf suedtiroler-freiheit.com. Ich versinke in den Leben der Figuren.
Fiebere mit. Weine. Lache. Blicke demütig in den Abspann. Und beschließe: Ich
bin der falsche Autor für diese Geschichte. Es wurde bereits alles erzählt.
Nicht nur in Stücken mit Bauernstuben. 

Herbst 2022, am Laptop erneut die Website suedtiroler-freiheit.com: Ich
versuche zu verstehen, welches Südtirol hier gemeint ist. Welche Freiheit. Ich
frage mich, warum diese Website gerade diese „Mitterer-Geschichte“ als Stream
anbietet. Wer bedient sich welcher Geschichte? 

Ich überarbeite mein Konzept. Suche nach dem Heute in dem Stauseedrama. Nach
Strukturen des Erinnerns. Aus 9 Figuren werden 18. Alle laufen nun mit Schatten
rum.  

März 2023: Ich fahre zum See, mit einem Mietauto von Innsbruck über den
Reschenpass. Aber der See ist nicht da. Das Wasser wurde abgelassen. Ich starre
auf den Grund. 

In meinem Hotelzimmer in der Hotelmappe die Geschichte des Sees, auf zwei
Seiten zusammengefasst. Andere Orte werben mit Schönheit und Idyll. Dieser Ort
mit einem geschichtlichen Zeigefinger. 

Ich laufe den See ohne See entlang. Ich stelle mir vor, wie früher die
Wiesen und Äcker verliefen, wie Kühe weideten, Kinder spielten, ein Flusslauf
sichtbar war, Hotels direkt am See lagen, ohne trostloser Umfahrungsstraße,
Stege zu Badeplätzen führten und auf dem damaligen Gewässer Ausflugsschiffe die
Sommertouristen von Ufer zu Ufer brachten. Der heutige Anblick ist eine
monströse Grube. Ich sehe eine Frau mit Hund durch das mondartige Gelände
staksen. 

Am Turm: Er ist von gefrorenem Wasser umgeben, da hier das Stauseebecken
extra vertieft wurde. Er sieht einsam aus. Normalerweise ragt die
Kirchturmspitze bizarr aus dem Smaragdblau der eindrucksvoll weiten
Seeoberfläche (laut Internetfotos). Vor mir weint der Turm. Dann bleiben einige
Autos stehen. Fotos werden gemacht. Schnell setzt der Turm sein Tourismus-Lächeln
auf. 

Nachts träume ich, in den Turm zu klettern und einen Schatz zu finden. Oder
ein Skelett. Oder Nazi-Runen. Oder Widerstands-Kassiber. Oder ein geheimes
Paradies vorzufinden, in dem die letzten Pflanzen und Tiere überleben. 

In einem Gasthaus esse ich ein „g’schmackiges“ Wildgulasch. Die Speisekarte
erzählt erneut die Geschichte des Sees samt Unrecht, „das über die Dörfer kam“. 

Im Frühstücksraum meines Hotels zwei deutsche Touristen. Sie fragen, wo
meine Ski sind? Ich sage, ich schreibe ein Stück. Sie wussten bislang nichts
über die Geschichte des Sees. Sie hoffen, „dass die Pisten gut beschneit sind“.
Von herunten sieht alles karg aus. Wieder ein Klimaerwärmungswinter. Was ist
der Zukunftsstausee? 

Ein Mitarbeiter des Heimatmuseum Obervinschgau führt uns (Elisabeth Thaler,
Rudi Frey und mich) versiert durch die Ausstellung. Er kennt Menschen, die „das
Drama“ noch persönlich durchleben mussten. Viel Verbitterung! Aber auch
Ablehnung. „Die einen klammern sich an die alten Geschichten, die anderen können
sie nicht mehr hören.“ Er erklärt, warum das Wasser an diesem Tag weg ist. Ein
Leck im Mantel des Druckstollens! „Die Firma“ macht wieder Reparaturen. Im
Reden hallt Vergangenheit nach. „Sie geben sich heute viel Mühe, die Firma,
aber…“ Mich interessiert das Aber.  

Wir erfahren, dass seit Marco Balzanos Bestseller „Ich bleibe hier“ mehr
Menschen das Museum besuchen. Das Thema werde nun „auch in Italien“
wahrgenommen. Ich frage, warum er „auch in Italien“ sagt, das hier sei ja alles
Italien. Er antwortet rasch: „Ich für meinen Teil bin Südtiroler“. Ich sehe das
weinende Auge. Und das lachende. Dazwischen flackern Verwundung und Zorn. 

Vor meiner Abreise, ich und die Staumauer: Gewaltig. Gewaltiger als sonst,
da ja das Wasser fehlt. Ich sehe Arbeiterinnen und Arbeitern in gelben Westen
und mit gelben Helmen bei den Reparaturen im Heute zu. Später parke ich das
Auto in Innsbruck. Blicke auf die Alpenkette. Hinter diesen Bergen doch ein
anderes Land. Im Zug nach Hause betrachte ich die Fotos meiner Reise. Den See
ohne See. Fast nur Ansichten von Furchen und Rissen am Grund. 

Thomas Arzt