Was macht ein:e Intimitätskoordinator:in? 

In „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann geht es um eine zu Geld gekommene Familie auf dem Lande, die durch Schicksalsschläge gezeichnet die Betäubung im Alkoholrausch sucht. Das hat den Regisseur Sarantos Zervoulakos und die Bühnen- und Kostümbildnerin Ece Anisoglu dazu gebracht – inspiriert durch die Lage und Beschaffenheit des Studios im Stadttheater Bozen und dem Wellnessparadies Südtirol – das Setting in eine Sauna zu versetzen, was Konsequenzen für die Spieler:innen hat. Außerdem beinhaltet dieses soziale Drama eine Kussszene mit simuliertem Sex, eine Geburt im Off und leichte körperliche Gewalt. Potenzielle Nacktheit ist durch die Verortung in einer Sauna auch zu erwarten. All diese Konsequenzen hat uns, die Vereinigten Bühnen Bozen, dazu angehalten, sich mit dem komplexen Thema der Intimitätskoordination zu befassen und für präventive Maßnahmen für Spieler:innen und alle Beteiligten zu sorgen.


Als Produktionsdramaturg recherchierte ich und wurde beim Alumni-Tag der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München tatsächlich fündig und durfte dort im Rahmen einer Fortbildung einen Vortrag von Franzy Deutscher, Vorsitzende des Berufsverbandes Intimitätskoordination und Kampfchoreografie e.V. besuchen. Hier lernte ich, dass Intimitätskoordination nicht nur Nacktheit auf der Bühne oder am Set koordiniert und professionell begleitet, sondern noch viel mehr für uns Kreativarbeiter:innen leisten kann. Es ist die Sensibilisierung für ein Thema, das uns alle im intimen Bereich des Proberaumes betrifft, schützt und bereichert. Da die Intimitätskoordination noch ziemlich stiefmütterlich im deutschsprachigen Theater und auch Film- und Fernsehbereich behandelt wird, habe ich vorab für Sie exklusiv ein Interview mit Franzy Deutscher vom Berufsverband Intimitätskoordination und Kampfchoreografie e. V. geführt.

Daniel Theuring: Liebe Franzy, kannst du uns einen kurzen Abriss geben, wie die Intimitätskoordination entstanden ist? 

Franzy Deutscher: Ich behaupte, dass Intimitätsdarstellungen auf der Bühne so alt sind wie szenisches Kämpfen und damit wie das Theater selbst. Vielleicht auch nicht, das haben wir in den Theaterwissenschaften nicht behandelt – aber innerhalb der letzten ca. 3000 Jahre Theatergeschichte gab es mit Sicherheit in den einzelnen Abteilungen, vom Kostüm über Regie, Choreografie bis hin zum Schauspiel, empathische und technische Überlegungen, wie man Intimität weniger unangenehm und gefährlich für Darstellende, Produktionsteilnehmende und das Publikum erarbeitet. Erstaunlicherweise musste es 2016 werden, bis eine ‘best practice’ etabliert wurde, die das Fundament für das gelegt hat, was wir heute Intimitätskoordination (IK) nennen.

Die gesamte Genese historisch nachzuzeichnen würde wahrscheinlich das Programmheft sprengen, also verkürze ich: Die IK ist in ihrem Ursprung ein amerikanisches Produkt, das in den 2010er Jahren u.a. von den Schauspielerinnen und Kampfchoreografinnen Tonia Sina, Alicia Rhodis und Shioban Richardson
entwickelt wurde. Diese drei haben mit ihren „5 pillars of Intimacy“ die Grundlage geschaffen, auf Basis derer vor allem die großen amerikanischen Produktionsfirmen (bspw. HBO) „golden standards“ auch an europäische Sets gebracht haben. Grob lässt sich sagen, dass diese Techniken und Methoden ca. 2018 über Großbritannien aufs europäische Festland gekommen sind.

Wir begreifen IK gerne als Kulturwandelphänomen und Handwerkszeug. Ohne die grundsätzliche Bereitschaft bestehende Arbeitsverhältnisse in Frage zu stellen, die in der darstellenden Kunst oft noch auf Ausbeutung, Missbrauch und überholten Hierarchien beruhen, hätte sie keinen fruchtbaren Boden.
Ganz konkret zu nennen sind Phänomene wie die me-too-Bewegung (ausgelöst durch den Weinstein-Skandal), die Anstrengungen der Bühnenverbände (bspw. das Veröffentlichen eines Verhaltenskodex gegen Machtmissbrauch vom Dt. Bühnenverein), das Veröffentlichen u.a. der Studie zu „Macht und
Struktur am Theater“ (Thomas Schmidt), sowie die Skandale, die sich vom Burgtheater bis zum Maxim Gorki Theater gezogen haben und ziehen. Der Ruf wurde laut nach mehr Arbeitssicherheit bei gleichzeitiger Wahrung künstlerischer Kreativität und Virtuosität.

Dabei geht es nicht darum, alle Kreativschaffenden unter Generalverdacht zu stellen. Es geht darum, intime Szenen auf der Bühne und im Film sicherer zu machen. Heißt: Grenzüberschreitungen auf körperlicher und seelischer Ebene – von Machtmissbrauch bis sexuellem Missbrauch in der kreativen Arbeit einzudämmen. Und zwar durch konkrete Techniken und klare Kommunikationsstrukturen innerhalb der Häuser, für die Probenabläufe und innerhalb der Teams. 

Mittlerweile ist die IK in den USA ein großer Zertifikationsmarkt mit unterschiedlichen Ausbildungsangeboten. Egal welche der vielen Schulen man sich anschaut, alle arbeiten mit den oben angesprochenen „5 Säulen“ der IK: Consent (also informierte Zustimmung), Context (welche Form und
warum überhaupt Intimität), Communication, Choreography (meistens Simulation), Closure (das Trennen von Rolle und Privatkörper). Die Aufgabe im europäischen Raum ist es nun, die amerikanische Vorlage an unsere jeweiligen kulturellen Begebenheiten sprachlich und inhaltlich anzupassen. Das versuchen wir im deutschsprachigen Raum ganz konkret als Berufsverband für Intimitätskoordination und Kampfchoreografie (BIK) bspw. indem wir Richtlinien und Infomaterial für den Umgang mit szenischer Intimität erarbeiten, an Theatern und Hochschulen sind und eigene Weiterbildungsangebote anbieten.

Intimitäskoordinatorin Franzy Deutscher
Foto: Marc Fuhrmann


DT: Was bedeutet Nacktheit im Theater? 

FD: Im besten Fall eine inszenatorische Notwendigkeit mit künstlerischem Mehrwert – keine Willkür. Warum ist es konzeptuell und dramaturgisch sinnvoll, dass die Figuren nackt gezeigt werden? Was löst das beim Publikum aus? Was bei den Kolleg:innen? Ich bin für Nacktheit und gegen in Watte gepackte Kunst. Aber ein Publikum spürt, ob sich die Rolle oder der Privatkörper da oben unwohl fühlt. Das ist nicht notwendig. Um die Nacktheit bei der Rolle und im Spiel zu lassen, braucht es eine gute und klare Probenführung mit geschlossenen Proben, professionelle Absprachen zwischen Schauspiel, Kostüm und Regie und eine transparente Kommunikation mit dem Haus, der Presse usw.  

DT: Im Theater wird, genau wie beim Film und Fernsehen, viel Erlebtes aus der eigenen Arbeitserfahrung von der Hospitant:in bis zur Intendant:in nachgeahmt und weitergegeben, eigentlich genau wie auch in Familien. Das kann zu einem Problem werden, oder? 

FD: Ich glaube, dass Nachahmung, mimesis, und Tradition wichtig sind, um Systeme grundsätzlich zu verstehen. Die Aufgabe der Kunst ist es dann, diese Systeme in Frage zu stellen und neue Antworten zu skizzieren und Wege zu finden, sich jenseits von Zwängen und persönlichen Anhaftungen auszudrücken. Das setzt eine Kommunikation auf Augenhöhe und auf einer Meta-Ebene voraus: Was machen wir da eigentlich und wie wollen wir das machen? Die Bühne ist ein Wunder-voller Ort, an dem die Wirklichkeit anders erfahrbar gemacht und Seh- und Fühlgewohnheiten aufgebrochen werden können. Zum Problem wird es, wenn wir unüberlegt Stereotype reproduzieren, die diskriminierend, rassistisch oder in welcher Form auch immer verletzend sind. Das gilt für die Probenarbeit, also das “wie wollen wir Theater machen” gleichsam wie für die Inszenierung, also “was wollen wir mit welchen Mitteln wie darstellen”? 

DT: Vieles, was vermeintlich als genial gilt, kann auch ungesund sein. So sollten die Spieler:innen lernen, sauber zwischen Rolle und Privatperson zu unterscheiden und zu trennen. Das ist, wie Du sagst, auch Arbeitsschutz, den man sich wie technische Arbeitsschutzmaßnahmen vorstellen kann, oder? 

FD: Ich maße mir nicht an, Proben zu verurteilen, bei denen ich nicht dabei war, oder jeden Geniekult per se in Frage zu stellen. Arbeitsschutz klingt auch erstmal unsexy und nach trockener Sicherheitseinweisung. Produktiver wird es, wenn wir das, was du als Trennung Rolle:Privatperson beschreibst, gleichsetzen mit Selbstverantwortung. Quasi als Gegenpol zur künstlerischen Selbstaufgabe oder Selbstüberwindung für eine höhere Sache/Person, wo ich die Verantwortung für mich in die Hände eines “Genies” gebe. Und damit leider auch Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen die Türen geöffnet werden. Selbstverantwortung und richtiges Grenzen setzen muss man lernen und das braucht Raum in den Proben. Sie sind aber ein Fundament, dass auch geniale Produktionen sicherer werden. Weil ich für meine eigene mentale Sicherheit gut vorsorgen kann. Das sollte Handwerkszeug für eine/n Schauspieler:in sein. Die Trennung von semiotischem Körper und Leib braucht Übung und nicht alle Schauspieltechniken lassen diese Trennung zu. Grundsätzlich gibt es dafür aber eine Sprache und die erlaubt es uns zu sagen: “Ich Franzy führe die Choreografie aus, meine Rolle X erlebt, was zwischen mir und der Figur Y passiert”. Ich kann somit Dinge in einer Rolle erleben, die ich als Privatperson vielleicht ablehnen würde, bin mir aber bewusst, dass meine Bühnenpersona am Arbeitsort bleibt und meine Privatperson, mein Leib, unbeschadet davon in den Alltag zu meiner Familie und in mein Bett zurückkehrt. Es gibt unterschiedliche Techniken dafür, es lohnt sich hier auszuprobieren.  

Ensemble „Vor Sonnenaufgang“
Foto: Luca Guadagnini

DT: Wenn wir jetzt einmal den Fokus auf konkrete Probensituationen lenken, welche Maßnahmen gibst du Produktionsteams an die Hand? 

FD: Im besten Fall bin ich ja nicht nur für einen Workshop da, sondern unterstütze die Vision des Produktionsteams und die Grenzen der Spieler:innen durch eine kontinuierliche Probenbetreuung. Nach einer Sichtung und Bewertung des Texts übernehme ich dann die für die expliziten Szenen notwendige Kommunikation zwischen den Abteilungen. Das sind Vorgespräche mit der Regie und Dramaturgie, wie sie sich die konkreten Szenen vorstellt. Mit dem Schauspiel, ihren Vorstellungen und Grenzen. Auf dieser Basis erarbeite ich mit Schauspiel und Regie, unterstützt von Kostüm und Bühnenbild, die Choreografie oder biete Variationen an. Außerdem entwickle ich mit dem Team Probenrituale für Proben mit exponiertem Inhalt. Ich bin neutrale Instanz und Kreativposition, die als Ansprechperson für die Produktionsteilnehmenden und das Haus für intime Szenen zuständig ist. Schreibe Gefährdungsanalysen, Nacktheitsvereinbarungen und Probenberichte. 
Was wir für die Palmetshofer-Produktion gemacht haben, war eine grundsätzliche Einführung in das Thema Intimitätskoordination, wo das Team Techniken und Handwerkszeug gelernt hat, so dass sie eigenverantwortlich Szenen, die wir als “red Flags” bezeichnen würden, erarbeiten und probieren können. Darüber hinaus hat das Haus Hinweise für Dispo, Kommunikationswege und Protokolle bekommen. Grundsätzlich lässt sich sagen: Intimitätskoordination hat eine eigene Sprache und benennt Tabus. Es ist aber auch irrsinnig viel Papierkram. Sie gibt einen organisatorischen Rahmen vor für bislang als selbstverständlich angenommene Prozesse. Kurzum: sie macht Probenprozesse und damit auch das Endergebnis weniger seltsam… Neudeutsch wahrscheinlich: weniger cringe

DT: Aber meistens kannst du ja als Intimitätskoordinatorin nicht täglich Mäuschen bei den Proben sein. Wie funktioniert das dann? 

FD: Wir sind nicht die Moralpolizei und keine therapeutische Anlaufstelle. Wir gehen davon aus, dass vornehmlich professionell ausgebildete Erwachsene an ihrem Arbeitsort gut geschützt, eigenverantwortlich, respektvoll und kreativ ihrer Arbeit nachgehen. Und dass die/der Arbeitgeber:in das in Form von Struktur, Raum und Personal unterstützt. Haus und Produktionsteilnehmer:innen bekommen Richtlinien für ihre Probenarbeit und für den späteren Spielbetrieb. Außerdem werden Strukturen und Protokolle im Haus erarbeitet, die bei Grenzüberschreitungen ziehen sollten. Um die Spieler:innen zu schützen, greifen obendrein die oben angesprochenen Dokumente, die zum Teil als Vereinbarungen unterzeichnet oder als Dokumentationen dem Haus vorliegen. Am Ende sollte jede Form von szenischer Intimität freiwillig ausgeführt, notiert und wiederholbar sein. 

DT: Theater ist nach wie vor sehr hierarchisch aufgebaut, oft wird diese Macht unbewusst oder sogar bewusst missbraucht. Was kann da jede/r Einzelne tun? 

FD: Hinterfragen, welche Macht man selbst im Raum hat. Kommunizieren, wenn kein Raum zur Entfaltung der eigenen Kreativität zugestanden wird. Den Raum sicherer machen, ohne sich und andere dabei zu gefährden. Das kann sein: Auf Gossip verzichten, sich nicht über Kolleg:innen stellen, kein Arschloch sein. Im Zweifelsfall gehen. Das sagt sich so leicht. Als Künstler:innen stecken wir immer in Abhängigkeitsverhältnissen: Geld, Anerkennung, usw. Ich bin als IK ja auch nicht frei von Macht, nur weil ich das gerne hätte. Es ist auch nicht schlimm, eine Position zu besetzen, sondern wesentlich. Man sollte sich nur im Klaren sein, welche Position das konkret ist und was das für Konsequenzen hat. Eine Kollegin hat mal gesagt: “Ich muss wissen, wann ich mich groß und wann ich mich klein machen muss” – das fasst es eigentlich ganz gut zusammen. Sich nicht wichtig machen, weil es toll ist, dass einem alle zuhören, sondern die eigene Position zum Wohle der Produktionsteilnehmer:innen und der Produktion einsetzen.  
Mir persönlich hilft es menschlich und fehlbar zu sein. Ich entschuldige mich und gebe meine Fehler zu: ich kann nicht alles wissen. Aber ich kann mir Hilfe holen und besser werden, indem ich transparent bleibe. Und ich kann Platz machen, wenn jemand etwas besser weiß als ich, auch wenn er oder sie weniger Erfahrung hat oder anders aussieht als ich. 

DT: Aber wenn etwas bei einem/r Kolleg:in schief reinläuft, dann bleibt das bei vielen von uns im Gedächtnis bewusst oder unbewusst und wird Konsequenzen für die Zukunft haben. Da sind wir alle, und da nehme ich mich nicht aus, ziemliche Dickhäuter. Wie können wir damit objektiver umgehen? 

FD: Also, wenn uns der Strukturalismus eine Sache versucht hat zu erklären, dann dass es in zwischenmenschlichen Beziehungen keine Objektivität geben kann. Meinst du Dickhäuter, als “nicht vergessen können” und den Konflikt weiter in die Arbeit mittragen?  

DT: Ja … 

FD: Als Intimitätskoordinator:innen sind wir keine Therapeut:innen, daher maße ich mir nicht an, eine allumfassende Antwort zu geben. Wir können zwar Konflikte transparent machen, aber wir sind auch keine ausgebildete Mediationsposition. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. 
Hat unsere Arbeit mit Konflikten zu tun? Auf jeden Fall! Im Theater stellen wir Konflikte dar. Wir arbeiten in kurzer Zeit auf engem Raum mit Menschen, die alle unterschiedliche Konfliktpotentiale mit auf die Probe bringen. Ich denke, da spielen mindestens drei Ebenen mit rein: Struktur des Hauses, Struktur der Proben, Persönlichkeitsstruktur. Um die Vielheit zu unterstützen, brauchen wir einen professionellen Rahmen, der zulässt, dass produktiv zusammengearbeitet werden kann. Wie immer kann der Schlüssel nur sein: Kommunikation und klares Teamgefüge. Was ist der Rahmen, was sind die Regeln, wer im Team braucht was und wer kann was aus welcher Position heraus leisten. Um Konflikte zu lösen, hilft es zu fragen: brauchen wir/ich professionelle Hilfe (Mediation, Therapie, Vertrauensstelle), müssen wir/ich die Struktur anpassen und muss ich an mir arbeiten? Und dann handeln.  

DT: Auf der anderen Seite ist es auch für die Darstellenden sicher immer tagesabhängig, auch wenn wir alle erwachsene Menschen sind, den inneren Schweinehund zu überwinden und frei von Eitelkeiten und Befindlichkeiten zu bleiben, ist nicht immer leicht. Wie sind Deine Erfahrungen damit gerade im Theater? 

FD: Richtig, wir sind alle Menschen, deren Tagesform variiert und bei denen die Chemie zwischenmenschlich mal besser, mal weniger gut funktioniert. Grundsätzlich sind wir aber alle daran interessiert, dass die Lebenszeit, die wir in unsere Arbeit einfließen lassen, nicht vergeudet ist. Im Regelfall arbeite ich mit Theatermenschen zusammen, deren Arbeitsethos gesund, diszipliniert und professionell ist. Klar, schert mal eine/r aus. Wenn das im Rahmen ist, kann ein gutes Team das puffern und entweder stehen lassen oder entsprechend einfangen. Ich arbeite gerne in Kollektiven und Produktionsteams zusammen, auch weil meine Meinung dann nicht die einzig gültige Meinung ist, sondern es Verhandlungsraum, also Spielraum gibt, das “wie machen wir eigentlich Theater” zu hinterfragen. Dann wird das Theater seiner Aufgabe, ein politischer und sozialer Kulturraum zu sein, gerecht. 

DT: Auf jeden Fall hat mich deine Arbeit für dieses Thema sensibilisiert und auch bereichert. In Zukunft mache ich es mir in diesem Bereich nicht mehr leicht und versuche auch die Zivilcourage aufzubringen, um toxische Prozesse zu stoppen. Ich glaube, das muss der erste Schritt sein, um in die Zukunft eines besseren Theaters zu gehen. 

FD: Es freut mich, dass es für dich Möglichkeiten aufgemacht hat und du Tatendrang spürst, “toxische Prozesse” aufzuhalten. Das ist sehr löblich und in der Position als fester Dramaturg wahrscheinlich einfacher als als freischaffender Gast. Für mich ist der erste Schritt, es selbst besser als gestern zu machen. Oder Räume zu schaffen, in denen angstfreier und mutiger gearbeitet werden kann. Ich lerne immer auch noch dazu und werde in ein paar Jahren mit Sicherheit zurückschauen und sagen: “Ah! Das hätte ich besser machen können.” Das kommt mit Erfahrung. Und durch Gespräche mit anderen IKs und Kreativschaffenden. 

DT: Du liest die Fassungen oder Drehbücher in Vorbereitung Deiner Workshops. Wie hat die Überschreibung von Ewald Palmetshofer auf dich gewirkt? 

FD: Auf jeden Fall lese ich die, ja. Das gleiche gilt für meine Arbeit als Kampfchoreographin – schließlich wollen wir ja körperliche Geschichten erzählen, da kann ich den Kontext und die Figurenentwicklung nicht außen vor lassen. Wie die Überschreibung auf mich gewirkt hat? Da antworte ich jetzt mal als Literatur- und Theaterwissenschaflerin. Ich mag Palmetshofers rhythmischen Schreibstil. Dieses inhaltliche Annähern und Suchen – obwohl die Figuren ja irgendwie schon wissen; diese beiden Ebenen zeigen sich in der unvollständigen Syntax und in diesen zeitweise schweren und tiefen Pausen, die ohne Ton das Unaussprechliche aussprechen. Es bleibt wie bei Hauptmann ein soziales Drama, das mal anzieht und mal abstößt. Ich bin froh, dass Palmetshofer hier und da an den Werte-Reglern gedreht hat und Anpassungen vorgenommen hat, die es auch in der post Postmoderne lesbar und empfindbar machen. Ich mochte die Überschreibung der Frauenfiguren Helene und Martha. Dass sich Helene nicht umbringen musste wegen unerfüllter Liebe und dass Martha auf der Bühne sichtbar und inhaltlich abgeklärter dargestellt wird, dass sie nicht nur Anhängsel von Hoffmann ist. Gottseidank ist diese inzestuöse Neffenfigur aus dem Drama rausgestrichen. Den mochte ich nie. 

DT: Hast du dich mit dem Thema und/oder einer Figur identifizieren können, oder gibt es Themen/Situationen daraus, die du kennst? 

FD: Ich mochte Helene und fand sie toll und emanzipiert, gleichzeitig aber unselbstständig und traurig. Auch dem Prototyp „Hofmann” begegnet man im richtigen Leben sehr häufig. Ich wohne ja in München. Als Mutter von zwei Kindern hat mich die Geburt und besonders Marthas „bringt es weg” arg mitgenommen. Der Schmerz im Stück, der eigentlich an keiner der Figuren vorbeigeht, ausgenommen vielleicht Loth, aber der leidet ja an der Welt, ist bitter. Da wird die emotionale Enge in der Sauna zum Schmerz über die vielen Krisen und Kriege, die uns derzeit umgeben. 

DT: Welche Szene ist dir bis heute am plastischsten in Erinnerung geblieben? 

FD: Das Finale in der Sauna, wo alle an sich, in sich und am andern kollabieren. Ich bin gespannt, wie der Regisseur Sarantos und das Ensemble das szenisch umsetzen und freue mich auf die Premiere.  
 

DT: Ewald Palmetshofer musste Martha eine Stimme und eine Figur schenken, weil sie bei Gerhart Hauptmann im ersten Stock angenommen wird, man nur ab und an ein Knarzen der Dielen wahrnehmen sollte. Er dachte daran schon 2012, als noch keine Anna Bergmann in Karlsruhe das patriarchale Theatersystem in Frage gestellt hat. Wie gefällt dir diese mündige Frau, die von Depressionen, Alkohol und Zigarettenmissbrauch gezeichnet ist und am Ende ein totes Kind gebiert?  

FD: Wie viele der Figuren finde ich sie überzeichnet und ein Abbild einer werdenden Mutter, die gar keinen Bock hat, diesem Mutterbild zu entsprechen. Vielmehr Mutter sein will, um ihr altes Ich hinter sich lassen zu können. Ich habe Martha nicht als mündige Frau empfunden, eher zwischen Zwängen, verzweifelter Mündigkeit und abgeklärter Müdigkeit gelesen. 

Insgesamt ist das Familienbild sehr dekadent und klassistisch geprägt, also sich seiner Klasse sehr bewusst und dabei scheinoffen aber doch ausgrenzend. Manche davon wollen aus Werten ausbrechen und scheitern dann doch daran, weil sie nicht wissen wohin. Irgendwie traurig. 

DT: Vielen Dank für das Gespräch!