„Maßvoll maßlos“ – Autorin Rebekka Kricheldorf im Interview 

Daniel Theuring: Liebe Rebekka, wie bist du darauf gekommen, über die Kardinaltugenden ein Theaterstück zu schreiben? Wer hat dich beauftragt? Wie bist du damit zurechtgekommen? 

Rebekka Kricheldorf: Beauftragt, ein Stück zu schreiben, hat mich das Theater Heidelberg. Beauftragt, ein Stück über die Kardinaltugenden zu schreiben, habe ich mich selbst. Das Theater plante ein Autor:innen-Festival zum Thema „Widerstand“, da reizte es mich, etwas über eher misslungene, heuchlerische Formen des Widerstands zu schreiben, also die Ambivalenzen des ethischen Konsums, Greenwashing, woke capitalism. Über diesen eher tagespolitischen Themenkomplex kam ich dann zu universelleren Moralfragen und den Kardinaltugenden. 

DT: Wie lange hast du an „Die Guten“ geschrieben? 

RK: Ich kann nie genau sagen, wann die Arbeit an einem Stück genau anfängt: Beim darüber Nachdenken? Bei der Recherche? Oder wirklich erst beim Schreiben? Für dieses Stück hab ich lange recherchiert, also sehr, sehr viel gelesen, bevor ich überhaupt mit dem Schreiben anfing. 

DT: “Die Guten” sind ein Theaterstück über Allegorien, die der Menschheit seit der Antike als Handlungsanweisung, um Gutes zu tun an die Hand gegeben wurden. Das ist eine komfortable Ausgangssituation, oder? Wie schwierig war es, aus Stilmitteln Figuren zu machen? 

RK: Ich hab ja grundsätzlich eine Affinität zu mythischen, prototypischen Figuren: Superhelden, Werwölfe, Märchentiere, Vampire. Da war der Weg zu den Allegorien nicht mehr allzu weit. Das Dankbare an Figuren, die nicht psychologisch, sondern eher Konzepte sind, ist ja, dass man sie genüsslich gegen den Strich bürsten, von ihrem hohen Ross hinunter in die Niederungen des Alltäglichen ziehen und daraus wunderbares Witzkapital schlagen kann. Die Beschreibung der klassischen Kardinaltugenden bietet einem ja schon sehr viel mögliche Handlung und auch Komik auf dem Silbertablett. Ich musste eher gucken, dass ich mich beschränke, weil ich so viel schönes und interessantes Material gefunden habe. Deshalb ist auch noch die eine oder andere subalterne Tugend wie die Demut oder die Keuschheit mit ins Stück geraten. Wirklich, ich hätte locker ein Zwölf-Stunden-Stück daraus machen können! Schon allein das Nachdenken darüber, was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet, wie sich eine fleischgewordene Iustitia angesichts der Weltlage so fühlen könnte und was für aktuelle Beispiele für schwere Verstöße gegen das Gerechtigkeitsprinzip es gerade gibt, wäre schon mehr als abendfüllend. 

Foto: Robert Frank

DT: Hast du eine Lieblingstugend und wenn, warum? 

RK: Ich mag ja alle vier sehr gern, aber am nächsten ist mir Temperantia, die Mäßigung. Vielleicht, weil ich das Ringen um sie persönlich sehr gut kenne … 

DT: Was bedeuten für dich Humor und Komik, wenn du an Dein Theaterstück „Die Guten“ denkst und was bedeuten sie für dein Schreiben generell? 

RK: Komik ist für mein Schreiben essenziell, würde ich sagen. Die Idee von Komik als Waffe der Aufklärung ist mir sehr nah. Aber auch Komik als Überlebensstrategie, also, im (gemeinsamen) Lachen mit den Ungeheuerlichkeiten des Lebens klarzukommen. 

DT: Was bedeutet Ironie für dich und das Stück? 
Was bedeutet Sarkasmus für dich und das Stück? 
Was bedeutet Zynismus für dich und das Stück? 

RK: Beim Schreiben spielen Ironie, Sarkasmus und Zynismus für mich erst mal überhaupt keine Rolle. Das heißt, ich denke nicht bei jedem Satz darüber nach, in welches Humorregister der jetzt fällt. Ich frage mich beim Schreiben eher, wer sich gerade über wen oder was lustig macht und warum. Die Tugenden zum Beispiel dissen sich ja munter gegenseitig, aber eher wie Schwestern, die bei einer Familienfeier zu lange aufeinander hocken müssen. Es gibt eine Stelle im Text, in der sich zumindest drei von ihnen genüsslich in beißendem Sarkasmus suhlen, das passiert dann, wenn sie die Menschen nachäffen. Da sind sie einfach bitter enttäuscht und machen so ihrer Enttäuschung Luft. Aber zynisch werden sie eigentlich nie, denn sie sind, ihrer jahrtausendelangen Erfahrung zum Trotz, keine Misanthropinnen. 

DT: Ich mag deinen Humor und deine Selbstkritik, wenn du über Menschen schreibst. Aber damit kann man auch anecken, oder?   

RK: Man kann mit allem, was man schreibt, anecken! Mein Projekt, die Selbstgefälligkeit der eigenen Blase humoristisch-kritisch zu hinterfragen, gefällt natürlich nicht jedem. Aber ich bin ja auch nicht angetreten, um dem Publikum eine maximale Wohlfühl-Atmosphäre anzubieten. Meine Devise lautet: „verstörende Unterhaltung“. 

DT: Die Kardinaltugenden haben diverse Attribute bei sich und tierische Gefährte(n), die Tapferkeit, Fortitudo, hat einen Löwen, der vor der Tür geparkt ständig brüllt. Wie präsent waren dir diese Eigenheiten beim Schreiben? 

RK: Die Attribute sind großartiges Komik-Material. Wir Nachgeborenen haben ja zu vielen Aspekten der antiken Symbolik keinen Bezug mehr, können sie nicht mehr oder nur noch schlecht deuten. Die Waage von Iustitia ist uns bekannt, die können wir noch verstehen, aber warum hat die Klugheit eine Schlange in der Hand? Mit diesen mehr oder weniger schrägen Attributen lässt sich wunderbar spielen, gerade auch auf einer Theaterbühne. Fundstücke wie Temperantias Behälter zum Mischen von Wasser und Wein als Zeichen ihres gemäßigten Konsums sozusagen, sind natürlich tolle, humoristische Identifikationsangebote an uns heutige. 

DT: Im Verlauf des Stückes kristallisiert sich heraus, dass die Kardinaltugenden auch menschliche Schwächen haben, das schafft Identifikation, Mitgefühl und hat einen bissigen Witz, hast du dadurch auch einen direkten Zugang zu diesem formalen Stilmittel der Allegorie gesucht und gefunden? 

RK: Allegorien menscheln ja grundsätzlich immer, da sie ausnahmslos von Menschen erdacht wurden. Das ist auch das, was an griechischen Göttern so sympathisch ist: sie versuchen gar nicht erst, ihre Menschlichkeit zu verschleiern. Bei den monotheistischen Gottheiten, die so seriös daherkommen, mag man manchmal vergessen, dass sie auch nur ausgedacht sind, ausgestattet mit allen Fehlern, Schwächen und schiefen Weltbildern ihrer Erfinder. Die vier Guten behaupten auch eine Weisheit und universelle Gültigkeit, die sie nicht haben. Hinter ihnen steht ein kleiner Mensch, der auch nur ein Produkt seiner Zeit, seiner Umwelt und seines begrenzen Horizontes ist, nämlich ich, die Autorin. 

DT: Bei der ersten Leseprobe deines Stückes mit den Schauspieler:innen hat sich all das Potenzial, was ich beim Lesen an meinem Schreibtisch darin gesehen habe, eingelöst. Das ist für den Dramaturg ein großes Glücksgefühl. Wie waren die Rückmeldungen der anderen Kolleg:innen, die das Stück angesetzt haben? 

RK: Bis jetzt bekomme ich auch oft die Rückmeldung, dass das Stück sehr gerne gespielt wird. Solche „bigger than life“-Figuren bieten ja auch bestes Schauspieler:innenfutter, da kann man dem Theateraffen richtig Zucker geben! 

DT: Ich habe ja jetzt schon verraten, dass die erste Leseprobe bei mir Glücksgefühle und großen Spaß ausgelöst hat, aber warum meinst du, dass man sich „Die Guten“ unbedingt anschauen kommen sollte? 

RK: Ha, Eigenlob ist doch Eitelkeit, also eine Todsünde! Aber gut: Ich empfehle das Stück wärmstens, da sich die Autorin redlich darum bemüht hat, Infotainment auf höchstem Niveau zu bieten! Es könnte sowohl für philosophisch als auch politisch Interessierte ein Gewinn sein. Vom Impulsreferat bis zum Klamauk ist alles dabei. Und es bietet sicher einigen Stoff für Gespräche nach der Vorstellung beim Wein. Oder wenn man Temperantia gefallen will: Weinschorle. 

DT: Vielen Dank für das Gespräch. 

Interview mit und ohne Worte

Wir haben das Team der Produktion „Das Traumfresserchen“ vorab über ihre Träume und das Schlafen befragt.

Cecilia Kukua, wie stellst du dir das Traumfresserchen vor? 

Wovon träumst du? 

Ich träume von einer Welt, in der Vielfalt, Gleichberechtigung und Frieden selbstverständlich sind. Wir müssen heute dafür aufstehen, um dieses Weltbild eines Tages zu verwirklichen. In meiner Utopie sind die Menschen frei, sie singen, lachen, tanzen viel und stehen einander bei, auch in schwierigen Zeiten. 

Tanja Regele, was machst du, wenn du nicht schlafen kannst?

 Wovon träumst du? 

Ich träume viel und intensiv und ich liebe es. Manchmal bin ich mir bewusst, dass ich träume und ich schaue gebannt auf meinen Traum wie auf einen Film. In einem immer mal wiederkehrenden Albtraum muss ich mehrere Fächer meiner Matura nachholen, weil damals scheinbar was schiefgelaufen ist. Für unsere Welt träume ich von sozialer Gerechtigkeit.   

Anna Starzinger, was war dein schönster Traum? 

Wovon träumst du? 

Tagsüber träume ich von einer besseren Welt. Klingt vielleicht etwas platt, oder von Martin Luther King ausgeliehen, aber solche Träume, … solche Träume bereichern das menschliche Sein. 
Nächtens hingegen träume ich oft ganze Geschichten, manchmal sogar mit Musik, – dann freue ich mich besonders. Dann muss ich mich allerdings zwingen aufzuwachen und die Musik sofort aufschreiben, denn am nächsten Morgen bleibt davon nur ein schleierhafter Schatten der Erinnerung. Die liebsten Träume sind mir aber die klassischen „Flug- und Schwebe-Träume“. 

Patrizia Pfeifer, was würdest du machen, wenn du Königin wärst? 

Wovon träumst du? 

Ich trete durch ein großes Tor und bin an einem Ort, in dem die Menschen, die Tiere und die Natur im Einklang leben. Und man sagt mir: „Jetzt bist du in der richtigen Welt“. Das ist ein schöner Traum.   

Michaela Stocker, wie fühlst du dich, wenn du schlecht geschlafen hast? 

Wovon träumst du? 

Ich träume von phantastischen Tierwesen, unbekannten Orten, lieben Menschen und einer Welt, die noch ein bisschen mehr in Ordnung ist. 

Fotos: Luca Guadagnini

Das Publikum emotional packen 

Martin Finnland, Künstlerischer Leiter des Kollektivs „Nesterval“ und Regisseur von „Die 7 Tage von Mariahaim“ über immersives Theater und die Arbeit in Bozen. 

Elisabeth Thaler: Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform? 

Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.  

Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt? 

Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht… 

Martin Finnland ©Alexandra Thompson

Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“? 

Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.  

Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern? 

Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte. 

Mit der Vielfältigkeit und Freiheit der Operette spielen 

Ein Gespräch mit der Musikalischen Leiterin Elisa Gogou und der Regisseurin Susanne Lietzow 

Elisabeth Thaler: „Die lustige Witwe“ ist deine erste Operetteninszenierung. Was hat dich an diesem Genre gereizt? 

Susanne Lietzow: Im ersten Moment hat mich der Verruf des Genres gereizt. Die Operette wurde nach dem Vorbild der Pariser Opéra comique als eigenständige Kunstform erfunden, um der Oper eine freiere Art von Musiktheater entgegenzustellen. Die Aufführungsgeschichte jedoch hat die Operette extrem in ein konservatives Eck gebracht. Es gibt nun viele Bestrebungen, das Genre zu aktualisieren und eine andere Generation von Zuschauer:innen neu dafür zu gewinnen. Das hat mich interessiert. „Die lustige Witwe“ ist zudem eine Komödie, die auch einen absurden Zugriff erlaubt, mit einer wunderschönen Liebesgeschichte im Zentrum.  

Die Operette wird oft als „leichte Unterhaltung“ angesehen. Was ist die Herausforderung, eine Operette zu dirigieren? 

Elisa Gogou: Als Kapellmeister:in ist es absolut notwendig, Operetten zu dirigieren, weil es technisch zu den wichtigsten Aufgaben gehört. Zum Beispiel die Wechsel der Tempi, Übergänge, Auftakte … lernt man nur durch die Operette. Sonst kann man Puccini ecc. nicht begleiten. Einen Walzer zu dirigieren, ist nämlich alles andere als einfach. 

Elisa Gogou
Foto: Anna Cerrato

„Die lustige Witwe“ wird als 1. Tanzoperette bezeichnet. Was war musikalisch das Neue an diesem Werk?  

Elisa Gogou: Lehár war im Genre der Operette ein Anfänger und musste seinen eigenen Stil finden. Es gab Berührungspunkte durch seine Biografie, da er als Violinist in der Kapelle seines Vaters gespielt hat, der wiederum am Theater an der Wien unter Franz von Suppé gespielt hat. Dennoch kannte Lehár als Militärkapellmeister den Walzer nicht sehr gut. Er schaffte es aber, derart kreative und geniale Melodien zu schreiben, die nur mit der „Fledermaus“ zu vergleichen sind. In der „Lustigen Witwe“ unterscheidet er musikalisch zwischen den beiden Regionen. Für Pontevedro schreibt er Mazurka, Polonaise, Kolo. Wenn Hanna Glawari zu den Herren spricht, benutzt sie den Walzer. Für die Franzosen komponiert er Cancan, Galopp, Märsche und den Langsamen Walzer. Mit dieser Operette läutete Lehár eine neue Ära ein. Danach wurden international viele Stücke nach dem Vorbild der „Lustigen Witwe“ geschrieben, doch niemand konnte sie übertreffen.  

Lehár ging nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch inhaltlich. Er und seine Librettisten León und Stein sprachen aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an. Das fiktive „Pontevedero“ verweist beispielsweise auf „Montenegro“, die „Damenwahl“ im 1. Finale bezieht sich auf das damals diskutierte allgemeine Wahlrecht. Hanna Glawari gilt als moderne Darstellung einer unabhängigen Frau. Wo trifft dieses Stück auch heute noch den Nerv der Zeit? 

Susanne Lietzow: Die Frauenfiguren in der „Lustigen Witwe“ sind von Lehár sehr stark gezeichnet. Dennoch wissen wir alle, dass wir heute frauenpolitisch anders mit diesen Stoffen umgehen müssen, weil sie uninterpretiert auf der Bühne nicht mehr funktionieren. Vor allem muss man die „Altherrenwitze“ eliminieren. Es gibt die wehrhafte Frau im Zentrum, die selbstbewusst um ihre Zukunft kämpft. Es war mir auch ein Anliegen, die Pariser Grisetten nicht als männerbelustigende Hupfdohlen auf die Bühne zu stellen, sondern als Frauen, die sich für dieses Leben bewusst entschieden haben. Diese Umdrehungen sind mir sehr wichtig. Zudem ist es ja auch eine Komödie, und Komödien haben immer einen tieferen Hintergrund und Sinn. Natürlich kann das Spiel mit einer Exilgesellschaft, die zu Hause eine Diktatur erlebt hat und sehr, sehr gerne das demokratische System in Paris mit lebt, als Assoziation ins Jetzt gelesen werden, wo Diktaturen sich wieder ausbreiten und die über Jahre erkämpften Rechte und Freiheiten unserer Gesellschaft wieder angegriffen werden.

Ein humorvoller und gleichzeitig politischer Zugang scheinen gerade bei der Operette oft ein Widerspruch. Wie bringst du beides zusammen? 

Susanne Lietzow: Man verstärkt Assoziationen. Als Beispiel nenne ich das Thema „Klassengesellschaft“ in der Beziehung von Hanna und Danilo. Bei uns stammt sie nicht vom Landadel ab, sondern ist ein Dienstmädchen und gehört einem Stand an, der der Liebe zu Danilo völlig im Weg steht. Das Spannende ist, dass sich Hanna komplett darüber hinwegsetzt. In unserer Inszenierung haben wir den beiden eine uneheliche Tochter zur Seite gestellt. Hanna legt großen Wert darauf, dass dieses Mädchen eine so gute Ausbildung bekommt, dass sie auch ohne Mann überleben könnte. Das kann Hanna noch nicht.  

Susanne Lietzow
Foto: Susanne Lietzow

Wenn wir auf die Liebe schauen, sehen wir verschiedene Liebesgeschichten: die unerfüllte Liebe, die verbotene Liebe, den erotischen Liebeskampf. Spürt man diese Unterschiede auch in der Musik? 

Elisa Gogou: In Lehárs Musik geht alles um Erotik und Sinnlichkeit, aber in verschiedenen Facetten. Valencienne ist eine Kokette, das spürt man auch in der Musik, die ihren Charakter beschreibt, ihre Gefühle und Bewegungen. Wenn man die Melodien hört, sieht man Valencienne vor sich, wie sie mit Leichtigkeit und spielerisch mit den Männern umgeht. Das haben die Frauen in dieser Gesellschaft trainiert. Wenn Hanna zu den Männern spricht und ihnen nahekommt, benutzt sie den Langsamen Walzer. Sie hat eine starke Seite und darf entscheiden, wen sie nehmen kann und wen nicht. Beim Duett „Lippen schweigen“ spürt man, dass sich Hanna und Danilo lieben. Es war ihr Schicksal, dass sie sich wiedertreffen und wiederfinden, egal wie ihr Leben inzwischen verlaufen ist. Das Chanson der Grisetten hingegen ist frech. Die Beschreibung der Charaktere ist musikalisch sehr durchsichtig. 

Susanne, du hast die Dialoge zum Teil umgeschrieben und aktualisiert. Wie bist du mit dem Text umgegangen?  

Susanne Lietzow: Manchmal ist der Text im Original „verplaudert“, manchmal altmodisch und frauenfeindlich. Ich habe versucht, die Sprache frecher und direkter zu nehmen. Sprache ist eine totale Behauptung. Wir spielen Tschechow am Theater und tun so, als ob wir alle Russ:innen wären. Mich hat das Aufeinanderprallen von Franzosen und Slawen in der „Lustigen Witwe“ interessiert, weil es zwei sehr verschiedene Mentalitäten sind, auch sprachlich. Es sind zwei unterschiedliche Melodien. Das fand ich spannend und sehr schön.  

Elisa Gogou: Ich finde es auch so toll, dass die Figuren die eigene Sprache benutzen, besonders um zu schimpfen.   

Die 20er-Jahre, der „Tanz auf dem Vulkan“, spielen in unserer Inszenierung eine große Rolle. Wo siehst du eine Verbindung zwischen den 20-er Jahren des 20. und den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts? 

Susanne Lietzow: Wir haben die Operette zeitlich nicht ins Heute gesetzt, sondern in die 20-er Jahre. Mich berührt diese Zeit, in der nach der großen Verwerfung des 1. Weltkrieges 20 Jahre später wieder ein Weltkrieg möglich war. In den 20-er Jahren erlebten die Menschen eine enorme Aufbruchstimmung in allen Bereichen: für Frauen, für Demokratie … es war eine Zeitenöffnung, die leider nur kurz gedauert hat. Wie war es möglich, nach diesem Gefühl des Aufbruchs so einen Backlash zu veranstalten? Unsere Öffnung heute hat etwas länger angedauert, doch erleben wir zur Zeit leider auch wieder Demokratieverlust, Rückschritt in allen Bereichen. Insofern ist es schön, dass wir auf der Bühne in eine Welt hineinschauen, wo Aufbruchstimmung herrscht.  

Elisa, was liebst du an der „Lustigen Witwe“?  

Elisa Gogou: Ich liebe die Vielfältigkeit und die Freiheit, die diese Operette zulässt. Die Künstler:innen müssen sich auf der Bühne frei bewegen und singen können. Ich muss als Dirigentin in der Lage sein, das Orchester mitschweben zu lassen. In der „Lustigen Witwe“ ist die Musik so extrovertiert, dass die Sänger:innen die Gefühle spüren, mir in den Graben geben und ich als Mediatorin diese dem Orchester  weitergeben muss. Das macht jede Vorstellung spannend und nie langweilig.  

Vielen Dank für das Gespräch! 

POP!

Wir, ANGER, freuen uns sehr über die Einladung von Rudolf Frey, Teil seines Debüt-Jahres bei den Vereinigten Bühnen Bozen zu sein. Die Idee, unsere Musik mit Theater zu verbinden, hat uns sofort begeistert. Ein Theater-Konzert Abend mit ANGER – kann es etwas Besseres geben? Ziel ist es ein Theaterstück zu entwickeln, mit unserer Livemusik- und Performance. Wir arbeiten zurzeit an unserem zweiten Studioalbum und möchten diese Songs in die Stückentwicklung einfließen lassen. Da wir sehr viel Liebe für Theater haben und selbst jahrelang an verschiedenen Theaterproduktionen, unter anderem in der Dekadenz Brixen, Spektakel Wien gearbeitet haben, freuen wir uns auf diese Arbeit und Zeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen. Es wird ein wilder, lauter, bunter, leiser und schöner Theaterabend. Premiere ist Ende Jänner 2024 in Bozen.

Julian Angerer & Nora Pider / ANGER

Foto: Elisa Cappellari