Dramaturg Daniel Theuring interviewte die erfolgreiche Südtiroler Theaterautorin Anna Gschnitzer vorab.
Daniel Theuring: Liebe Anna. Als ich „Capri“ und „Die Entführung der Amygdala“ von dir zwischen die Finger bekam, da musste ich diese beiden Monologe auf einen Schlag durchlesen und man hat mich immer wieder amüsierte Äußerungen dabei machen hören. Das ist eine Qualität, die ich leider nicht so oft auf den Tisch bekomme. Gleichwohl hast Du damit ein großes Fass angestochen. Gender Care Gap und Auflösung des Patriarchats, das sind große, topaktuelle Brocken. Wie kamst du darauf?
Anna Gschnitzer: Ich schreibe häufig über Themen, die mich selbst betreffen. Auch wenn meine Texte nicht autobiografisch sind, behandeln sie meist Stoffe, die ich in meinem Umfeld beobachte. Vor vier Jahren wurde ich Mutter, und mein Leben – vor allem meine Perspektive darauf, wie wir uns als Gesellschaft umeinander kümmern – hat sich schlagartig verändert. Besonders wurde mir bewusst, wie sehr ich patriarchale Strukturen verinnerlicht hatte und wie stark ich beruflichen Erfolg und Karriere mit Emanzipation und Empowerment gleichsetzte. Doch dass dabei kein Raum für Sorgearbeit und Verletzlichkeit bleibt, kann man nicht lange ignorieren, wenn man Mutter wird.
Lange habe ich dem Karriere-Feminismus geglaubt, dass man „alles haben kann“ – solange man nur emanzipiert, solange man nur empowert genug ist. Im Grunde ist das die alte neoliberale Leier: Wenn man nur hart genug arbeitet, klappt es schon. Doch die Realität sieht anders aus. Kein Individuum, keine noch so gleichberechtigt gelebte Elternschaft kann allein gegen Strukturen ankommen, die Care-Arbeit systematisch abwerten. Die viel gepriesene „Vereinbarkeit“ von Beruf – und allem, was damit verbunden ist: finanzielle Unabhängigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Selbstwirksamkeit – und Care-Arbeit bleibt eine Illusion, weil Letztere in unserer Gesellschaft keine echte Wertschätzung erfährt.
Ich habe verstanden, dass es eine grundlegende Veränderung braucht – eine, die nicht (nur) beim Individuum ansetzt, sondern bei unserem gesellschaftlichen Umgang mit Verletzlichkeit. Denn als sorgebedürftige Wesen sind wir alle aufeinander angewiesen.
DT: Und warum in dieser Form und Struktur?
AG: Ich wollte einen Monolog schreiben, weil ich durchspielen wollte, wie ein Individuum vor vielen Menschen (dem Publikum) steht und eine direkte Beziehung zu ihnen eingeht. Dabei macht sich diese Person extrem verletzlich und riskiert alles.
Am Ende bleibt offen, wie das Publikum mit dieser Verletzlichkeit umgeht – ob es vielleicht den Transfer zur eigenen Verletzlichkeit und Verantwortung schafft. Ich wollte die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Struktur und Individuum wie in einer kleinen Versuchsanordnung für einen Theaterabend denken, dessen Ausgang offen bleibt.
DT: Da wir alle von einer Jahrtausende alten patriarchalen Gesellschaft gelehrt, geformt und geprägt wurden, liegt die Chance für Feminismus und die Auflösung des Patriarchats wirklich in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in der Familie und vor allem in der heteronormativen Beziehung, aus der Kinder hervorgegangen sind?
AG: Mit der Zementierung der heteronormativen Kleinfamilie als einzige mögliche Organisationsform sozialer Gemeinschaft wurde Care-Arbeit entwertet, privatisiert und vor allem als unbezahlte Aufgabe Frauen überlassen. Dies geschah unter der Prämisse des Patriarchats, dass Frauen „von Natur aus“ – also aufgrund zugeschriebener biologischer Merkmale – dazu bestimmt seien, sich um andere zu kümmern. Ich glaube also, um das Patriarchat zu überwinden, müssen wir bei der Kernfamilie ansetzten.
Ich halte es deshalb für essenziell zu verstehen, warum die Kleinfamilie in ihrer Struktur und ihrem Kern problematisch ist. Gleichzeitig lebe ich selbst in diesem Modell und frage mich, wie ich Familie so verändern kann, dass sie ihre patriarchalen Strukturen sprengt. Falls ich herausfinde, wie das geht, melde ich mich nochmal 😉
DT: Ist die Amygdala patriarchal?
AG: Ich habe mich mit diesem Teil des Gehirns beschäftigt, weil Studien gezeigt haben, dass die Amygdala auf ihr Umfeld reagiert und sich entsprechend verändert – insbesondere durch die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen, etwa für ein anderes Lebewesen. Der Körper passt sich den Aufgaben an, die ihm zugeteilt werden. Eine „natürliche“ biologische Veranlagung gibt es in diesem Sinne also nicht.
Ich fand es spannend, wie sich Sozialisation in den Körper einschreibt – und dass es sich dabei um etwas handelt, das veränderbar ist.
DT: Siehst du dich als Feministin?
AG: Ja.
DT: Frauen und FLINTA- Personen leiden in erster Linie an diesen Missständen, aber auch Männer werden im Unternehmens- und Arbeitsalltag leider immer wieder davon unter Druck gesetzt. Die toxischen patriarchalen Strukturen sind dabei ein ganzheitliches Problem unserer Gesellschaft, die leider sogar allzu gerne von Menschen, die selbst durch ihre Veranlagung an die Ränder unseres Miteinander gedrängt werden, bedient werden. Nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern leider auch in kulturellen Bereichen wie dem Theater. Wie können wir das überwinden?
AG: Indem wir uns mit anderen Menschen verbinden, denen es ähnlich geht, aber auch Allianzen mit jenen schmieden, die an anderen Stellen kämpfen. Indem wir viel zuhören, Raum geben und überlegen, wie sich alle an der Diskussion beteiligen können – auch wenn das bedeutet, selbst erst einmal nichts zu sagen.
Als Gesellschaft können wir nur durch Solidarität etwas bewirken. Wir müssen verstehen, dass, selbst wenn uns ein Thema persönlich nicht betrifft, wir letztlich alle von einer gleichberechtigten Gesellschaft profitieren.
DT: Yael Ronen behauptet in ihrem Werk „Slippery Slope“ über das Patriarchat: „Once you see it, you can’t unsee it”. Glaubst du mit “Die Entführung der Amygdala” auch hierfür sensibilisieren zu können?
AG: Das wäre schön. Das Stück wurde bereits an zwei anderen Theaterhäusern inszeniert, und bei den Vorstellungen sowie den Nachgesprächen waren viele Frauen und Mütter anwesend. Da fielen oft Sätze wie: „Ich werde meiner Mutter, Tochter, Freundin etc. von diesem Stück erzählen – sie muss es unbedingt sehen.“
Ich glaube, genau dieses Moment – das Wiedererkennen der eigenen Geschichte oder von Teilen davon auf der Bühne und das Gefühl, dass diese Geschichte auch von anderen gesehen wird – kann viel bewirken. Es kann Kräfte freisetzen, aber vor allem verdeutlichen, dass es sich nicht um ein individuelles Schicksal handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Und genau das macht es leichter, sich weniger allein zu fühlen, in Verbindung zu kommen, in die Solidarität, die Kraft.
DT: Ich glaube, dass der erste Schritt Reflexion sein muss. Habe ich Diskriminierung erfahren oder bin ich durch ein Erlebnis für patriarchale Strukturen sensibilisiert worden und kann ich sie benennen, dann kann ich lernen, damit umzugehen. Wie der Fisch im Wasser, der sich des Wassers bewusst ist. Oder?
AG: Ja, genau. Je mehr wir uns bewusst werden an welchen Stellen wir vielleicht Dinge reproduzieren, die wir eigentlich ablehnen, oder die uns selbst schaden, desto öfter gelingt es uns auch anders zu handeln, uns bewusst zu entscheiden und uns dadruch mit anderen zu verbinden.
DT: Ich wünsche mir für unsere Zukunft, dass wir diese toxischen Verhaltensweisen endlich ablegen, verlernen können, um tolerant und frei von Vorurteilen friedlich miteinander leben können. Oder meinst du, das ist zu kurz gedacht?
AG: Ich glaube an Utopien – und daran, dass sie scheitern dürfen. Denn gerade ihr Scheitern ist der Grund, warum wir immer weiter an ihnen arbeiten müssen. Je weiter eine Utopie entfernt scheint, desto mehr müssen wir an sie glauben.
DT: Was schlägst du vor?
AG: Sich kurz auf den Boden zu legen, das beruhigt das Nervensystem.
Michael Peintner aus dem Bereich sexuelle Bildung und Psychotherapie / Sexualtherapie hat als vorbereitende Maßnahme des Musicals RENT von Jonathan Larson dieser Produktion einen Workshop für die richtige Einordnung von HIV und AIDS und sexueller Gesundheit abgehalten. Im Musical RENT geht es um junge Künstler:innen Bohemiens im New York Mitte der 90er Jahre, die durch HIV / AIDS, Gentrifizierung, Drogen und Obdachlosigkeit bedroht werden. Damit alle im Probenprozess vom gleichen Wissensstand ausgehen können, hat Michael Peintner eindrucksvoll und interessant alle Vorurteile, Stigmatisierungen und Fehlinformationen auf diesem Bereich für uns alle klären können. Dramaturg Daniel Theuring nutzte daher die Chance, ein Interview mit ihm zum selben Thema für Sie zu führen, denn auch Sie, liebes Publikum sollen von dieser spannenden und ganzheitlichen Aufklärung profitieren dürfen.
Daniel Theuring: Lieber Michael Peintner, du hast dich der sexuellen Bildung -dazu gehört auch Aufklärung zur sexuellen Gesundheit- und Psychotherapie verschrieben. Wie kam es dazu?
Michael Peintner: Ich habe mich schon sehr früh -v.a. aus persönlichen Gründen- mit dem Thema „Sexualität“ auseinandergesetzt, da ich bereits in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter merkte, dass ich mich als „anders“ wahrgenommen hatte, gelernte Normen sich nicht stimmig anfühlten und ich nicht heteronormativ leben konnte/wollte. Nichtsdestotrotz oder vor allem deswegen hatte und habe ich für mich immer schon einen positiven Zugang zu meiner Sexualität gefunden und zwar jenseits von heteronormativen Konstrukten. Somit habe ich mich in den Bereichen sexuelle Bildung und Psychotherapie/Sexualtherapie qualifiziert, um andere Menschen aller Altersgruppen, Orientierungen und Identitäten wertschätzend, achtsam und respektvoll zu begleiten, damit sie ihren Weg zu einer selbstbestimmten, gesunden und stimmigen Sexualität finden können.
DT: Es gibt ja nicht nur HIV, wodurch viele Menschen stigmatisiert und diskriminiert wurden und immer noch werden, sondern auch eine ganze Reihe von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Was kursiert denn da alles so noch und wie wirkt sich das aus?
MP: Alle sexuell übertragbaren Krankheiten werden zusammengefasst unter den Fachbegriffen STI (sexually transmitted infections) oder STD (sexually transmitted deseases). Am meisten kursieren Lues (Syphillis), Gonorroeh (Tripper), Chlamydien, Kondylome (Feigwarzen), Herpes genitalis und Filzläuse. Im Unterschied zu HIV sind diese alle heilbar (meistens mit Antibiotika), sofern die Erreger rechtzeitig erkannt werden.
Auch HPV (humanes Papillomvirus), Hepatitis B und C sind nicht selten. Bei rechtzeitiger Diagnose sind auch diese heilbar. Gegen HPV und Hepatitis B schützt ebenfalls eine Impfung.
DT: Was ist der Unterschied zwischen HIV und AIDS? Wann, warum und wie hat uns diese Pandemie erfasst?
MP: HIV (Human Immunodeficiency Virus; zu deutsch: humanes Immundefizienz-Virus) ist der Erreger, der die Krankheit AIDS (Acquired Immuno Deficiency Syndrome, zu deutsch: erworbenes Immunschwächesyndrom) auslösen kann. Das bedeutet, dass ein Mensch, der eine HIV-Infektion hat, noch nicht automatisch die Krankheit AIDS hat. Aber wenn eine HIV-Infektion unentdeckt und/oder unbehandelt bleibt, dann entsteht in den meisten Fällen die Krankheit AIDS, die das Immunsystem angreift und schwächt.
HIV wurde 1983 erstmals von französischen Virolog:innen isoliert. Aber bereits im Jahre 1981 sind v.a. in den USA seltsame Lungenentzündungen mit Anschwellen der Lymphknoten aufgetreten. Das Virus hat sich dann sehr schnell weltweit verbreitet und die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in der Konsequenz bereits in den 1980er Jahren die AIDS-Pandemie ausgerufen, in der wir offiziell immer noch sind.
DT: Leider hält sich das Vorurteil hartnäckig, dass es sich bei HIV und AIDS um eine „Schwulenseuche“ handle. Warum?
MP: Die ersten HIV-Infektionen in den USA (und später auch bei uns) betrafen v.a. Männer, die Sex mit anderen Männern hatten. Da damals (und teilweise noch heute) v.a. in den USA -angefeuert durch verschiedene klerikale fundamentalistische Gruppierungen- eine massive homophobe Gesellschaft vorherrschte, wurde dort ein weiterer „Grund“ gefunden, um gegen schwule Männer zu hetzen. Und der extrem abwertende diskriminierende Begriff „Schwulenseuche“ war geboren. Zum Glück findet sich dieser Begriff in den west-, mittel- und nordeuropäischen Ländern fast überhaupt nicht mehr. Wir wissen ja mittlerweile, welche unterschiedlichen Infektionswege es gibt. Und neben Männern, die Sex mit Männern haben, gibt es ja auch noch andere Risikogruppen, wie z.B. suchtabhängige Menschen, die unsterile Spritzen benutzen. Und ich spreche bewusst NICHT von schwulen Männern als Risikogruppe, sondern von Männern, die Sex mit Männern haben. Das ist nämlich nicht das gleiche: Männer, die grundsätzlich romantisch und/oder sexuell heterosexuell leben (und sich nicht als „schwul/homosexuell/gleichgeschlechtlich orientiert“ definieren) können (ab und zu) Sex mit anderen Männern haben und gehören somit zur Risikogruppe.
DT: Wie kann HIV in der aktuellen Zeit am meisten übertragen werden?
MP: Da muss noch unterschieden werden, von welcher geographischen Zone wir reden. In der EU sowie USA und Kanada erfolgen die meisten Infektionen durch Geschlechtsverkehr, v.a. bei Männern, die Sex mit anderen Männern haben. In Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken wird HIV neben den sexuellen Übertragungswegen noch vermehrt durch unsterile Spritzen übertragen. Auch in den dortigen Gefängnissen ist HIV weit verbreitet. In diesen Ländern ist aber HIV/AIDS teilweise noch stark tabuisiert und es fehlt an flächendeckenden Aufklärungskampagnen. In Afrika ist die gesamte Bevölkerung quer über alle Altersgruppen (auch Kinder) und soziale Schichten von HIV-Infektionen betroffen. Das liegt einerseits an mangelnder Aufklärung und andererseits an fehlender bzw. unzureichender medizinischer Versorgung.
DT: Das Musical RENT von Jonathan Larson wurde 1996 uraufgeführt. Larson zeigt darin eine WG von Künstler:innen, die sich als Bohemiens verstehen, die durch HIV/AIDS, Drogenabhängigkeit und Geldnöte bedroht werden. Der/die Zuschauer:in begleitet sie genau ein Jahr und erlebt mit, wie einige davon dieses Jahr nicht überleben. Larson hat es sehr belastet, dass einige seiner Freund:innen auch an AIDS gestorben sind, was ihn dazu veranlasst hat, RENT zu schreiben. So wie ich dich bei unserem produktionsvorbereitenden Workshop „HIV/AIDS – damals und heute“ verstanden habe, war 1996 auch das Jahr, in dem sich das grundlegend geändert hat. Warum?
MP: Bis 1996 sind Menschen mit HIV an den Folgen von AIDS gestorben, weil nur Symptome behandelt, aber nicht das Virus selbst bekämpft werden konnte. 1996 kam es zu einer deutlichen Zäsur: Es wurde die sog. antiretrovirale Therapie entdeckt. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus 2-3 verschiedenen Medikamenten, die tagtäglich eingenommen werden müssen. Das Virus kann damit zwar nicht getötet, aber es kann soweit in Schach gehalten werden, dass es sich im Körper nicht mehr ausbreiten kann. Das HI-Virus schlummert sozusagen im Körper und ist nicht aktiv. Seit 2020 können sich HIV-infizierte Menschen anstatt der Tabletten auch für 2 Spritzen entscheiden, die alle 2 Monate im Gesäßmuskel vom medizinischen Personal verabreicht werden.
DT: Wie kann ich mich heute vor einer Infektion mit HIV schützen?
MP: Zum einen schützt die korrekte Verwendung des Kondoms vor einer HIV-Infektion. Seit 2016 gibt es für Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko die PrEP (Präexpositionsprophylaxe). Am sichersten ist die tägliche Einnahme dieses Medikamentes, das vor einer HIV-Infektion schützt, nicht aber vor den anderen sexuell übertragbaren Krankheiten.
DT: Wie sollen in der heutigen Zeit Präventionskampagnen gestaltet werden, um Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu reduzieren?
MP: Die aktuellen Präventionskampagnen haben das Ziel, ALLE Menschen anzusprechen (unabhängig von der sexuellen/romantischen Orientierung) und ebenfalls zu ALLEN sexuell übertragbaren Krankheiten zu informieren. Es geht v.a. darum, die Menschen zu motivieren, sich regelmäßig testen zu lassen. Bei rechtzeitiger Diagnose kann die betroffene Person effizient behandelt und weitere Infektionen durch diese Person können verhindert werden. Auch wenn HIV nicht heilbar ist, können HIV-infizierte Menschen, welche durch eine Therapie eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, andere Personen nicht infizieren. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO gelten Menschen mit einer HIV-Infektion, welche eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, als gesund.
Daniel Theuring: Liebe Rebekka, wie bist du darauf gekommen, über die Kardinaltugenden ein Theaterstück zu schreiben? Wer hat dich beauftragt? Wie bist du damit zurechtgekommen?
Rebekka Kricheldorf: Beauftragt, ein Stück zu schreiben, hat mich das Theater Heidelberg. Beauftragt, ein Stück über die Kardinaltugenden zu schreiben, habe ich mich selbst. Das Theater plante ein Autor:innen-Festival zum Thema „Widerstand“, da reizte es mich, etwas über eher misslungene, heuchlerische Formen des Widerstands zu schreiben, also die Ambivalenzen des ethischen Konsums, Greenwashing, woke capitalism. Über diesen eher tagespolitischen Themenkomplex kam ich dann zu universelleren Moralfragen und den Kardinaltugenden.
DT: Wie lange hast du an „Die Guten“ geschrieben?
RK: Ich kann nie genau sagen, wann die Arbeit an einem Stück genau anfängt: Beim darüber Nachdenken? Bei der Recherche? Oder wirklich erst beim Schreiben? Für dieses Stück hab ich lange recherchiert, also sehr, sehr viel gelesen, bevor ich überhaupt mit dem Schreiben anfing.
DT: “Die Guten” sind ein Theaterstück über Allegorien, die der Menschheit seit der Antike als Handlungsanweisung, um Gutes zu tun an die Hand gegeben wurden. Das ist eine komfortable Ausgangssituation, oder? Wie schwierig war es, aus Stilmitteln Figuren zu machen?
RK: Ich hab ja grundsätzlich eine Affinität zu mythischen, prototypischen Figuren: Superhelden, Werwölfe, Märchentiere, Vampire. Da war der Weg zu den Allegorien nicht mehr allzu weit. Das Dankbare an Figuren, die nicht psychologisch, sondern eher Konzepte sind, ist ja, dass man sie genüsslich gegen den Strich bürsten, von ihrem hohen Ross hinunter in die Niederungen des Alltäglichen ziehen und daraus wunderbares Witzkapital schlagen kann. Die Beschreibung der klassischen Kardinaltugenden bietet einem ja schon sehr viel mögliche Handlung und auch Komik auf dem Silbertablett. Ich musste eher gucken, dass ich mich beschränke, weil ich so viel schönes und interessantes Material gefunden habe. Deshalb ist auch noch die eine oder andere subalterne Tugend wie die Demut oder die Keuschheit mit ins Stück geraten. Wirklich, ich hätte locker ein Zwölf-Stunden-Stück daraus machen können! Schon allein das Nachdenken darüber, was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet, wie sich eine fleischgewordene Iustitia angesichts der Weltlage so fühlen könnte und was für aktuelle Beispiele für schwere Verstöße gegen das Gerechtigkeitsprinzip es gerade gibt, wäre schon mehr als abendfüllend.
Foto: Robert Frank
DT: Hast du eine Lieblingstugend und wenn, warum?
RK: Ich mag ja alle vier sehr gern, aber am nächsten ist mir Temperantia, die Mäßigung. Vielleicht, weil ich das Ringen um sie persönlich sehr gut kenne …
DT: Was bedeuten für dich Humor und Komik, wenn du an Dein Theaterstück „Die Guten“ denkst und was bedeuten sie für dein Schreiben generell?
RK: Komik ist für mein Schreiben essenziell, würde ich sagen. Die Idee von Komik als Waffe der Aufklärung ist mir sehr nah. Aber auch Komik als Überlebensstrategie, also, im (gemeinsamen) Lachen mit den Ungeheuerlichkeiten des Lebens klarzukommen.
DT: Was bedeutet Ironie für dich und das Stück? Was bedeutet Sarkasmus für dich und das Stück? Was bedeutet Zynismus für dich und das Stück?
RK: Beim Schreiben spielen Ironie, Sarkasmus und Zynismus für mich erst mal überhaupt keine Rolle. Das heißt, ich denke nicht bei jedem Satz darüber nach, in welches Humorregister der jetzt fällt. Ich frage mich beim Schreiben eher, wer sich gerade über wen oder was lustig macht und warum. Die Tugenden zum Beispiel dissen sich ja munter gegenseitig, aber eher wie Schwestern, die bei einer Familienfeier zu lange aufeinander hocken müssen. Es gibt eine Stelle im Text, in der sich zumindest drei von ihnen genüsslich in beißendem Sarkasmus suhlen, das passiert dann, wenn sie die Menschen nachäffen. Da sind sie einfach bitter enttäuscht und machen so ihrer Enttäuschung Luft. Aber zynisch werden sie eigentlich nie, denn sie sind, ihrer jahrtausendelangen Erfahrung zum Trotz, keine Misanthropinnen.
DT: Ich mag deinen Humor und deine Selbstkritik, wenn du über Menschen schreibst. Aber damit kann man auch anecken, oder?
RK: Man kann mit allem, was man schreibt, anecken! Mein Projekt, die Selbstgefälligkeit der eigenen Blase humoristisch-kritisch zu hinterfragen, gefällt natürlich nicht jedem. Aber ich bin ja auch nicht angetreten, um dem Publikum eine maximale Wohlfühl-Atmosphäre anzubieten. Meine Devise lautet: „verstörende Unterhaltung“.
DT: Die Kardinaltugenden haben diverse Attribute bei sich und tierische Gefährte(n), die Tapferkeit, Fortitudo, hat einen Löwen, der vor der Tür geparkt ständig brüllt. Wie präsent waren dir diese Eigenheiten beim Schreiben?
RK: Die Attribute sind großartiges Komik-Material. Wir Nachgeborenen haben ja zu vielen Aspekten der antiken Symbolik keinen Bezug mehr, können sie nicht mehr oder nur noch schlecht deuten. Die Waage von Iustitia ist uns bekannt, die können wir noch verstehen, aber warum hat die Klugheit eine Schlange in der Hand? Mit diesen mehr oder weniger schrägen Attributen lässt sich wunderbar spielen, gerade auch auf einer Theaterbühne. Fundstücke wie Temperantias Behälter zum Mischen von Wasser und Wein als Zeichen ihres gemäßigten Konsums sozusagen, sind natürlich tolle, humoristische Identifikationsangebote an uns heutige.
DT: Im Verlauf des Stückes kristallisiert sich heraus, dass die Kardinaltugenden auch menschliche Schwächen haben, das schafft Identifikation, Mitgefühl und hat einen bissigen Witz, hast du dadurch auch einen direkten Zugang zu diesem formalen Stilmittel der Allegorie gesucht und gefunden?
RK: Allegorien menscheln ja grundsätzlich immer, da sie ausnahmslos von Menschen erdacht wurden. Das ist auch das, was an griechischen Göttern so sympathisch ist: sie versuchen gar nicht erst, ihre Menschlichkeit zu verschleiern. Bei den monotheistischen Gottheiten, die so seriös daherkommen, mag man manchmal vergessen, dass sie auch nur ausgedacht sind, ausgestattet mit allen Fehlern, Schwächen und schiefen Weltbildern ihrer Erfinder. Die vier Guten behaupten auch eine Weisheit und universelle Gültigkeit, die sie nicht haben. Hinter ihnen steht ein kleiner Mensch, der auch nur ein Produkt seiner Zeit, seiner Umwelt und seines begrenzen Horizontes ist, nämlich ich, die Autorin.
DT: Bei der ersten Leseprobe deines Stückes mit den Schauspieler:innen hat sich all das Potenzial, was ich beim Lesen an meinem Schreibtisch darin gesehen habe, eingelöst. Das ist für den Dramaturg ein großes Glücksgefühl. Wie waren die Rückmeldungen der anderen Kolleg:innen, die das Stück angesetzt haben?
RK: Bis jetzt bekomme ich auch oft die Rückmeldung, dass das Stück sehr gerne gespielt wird. Solche „bigger than life“-Figuren bieten ja auch bestes Schauspieler:innenfutter, da kann man dem Theateraffen richtig Zucker geben!
DT: Ich habe ja jetzt schon verraten, dass die erste Leseprobe bei mir Glücksgefühle und großen Spaß ausgelöst hat, aber warum meinst du, dass man sich „Die Guten“ unbedingt anschauen kommen sollte?
RK: Ha, Eigenlob ist doch Eitelkeit, also eine Todsünde! Aber gut: Ich empfehle das Stück wärmstens, da sich die Autorin redlich darum bemüht hat, Infotainment auf höchstem Niveau zu bieten! Es könnte sowohl für philosophisch als auch politisch Interessierte ein Gewinn sein. Vom Impulsreferat bis zum Klamauk ist alles dabei. Und es bietet sicher einigen Stoff für Gespräche nach der Vorstellung beim Wein. Oder wenn man Temperantia gefallen will: Weinschorle.
Wir haben das Team der Produktion „Das Traumfresserchen“ vorab über ihre Träume und das Schlafen befragt.
Cecilia Kukua, wie stellst du dir das Traumfresserchen vor?
Wovon träumst du?
Ich träume von einer Welt, in der Vielfalt, Gleichberechtigung und Frieden selbstverständlich sind. Wir müssen heute dafür aufstehen, um dieses Weltbild eines Tages zu verwirklichen. In meiner Utopie sind die Menschen frei, sie singen, lachen, tanzen viel und stehen einander bei, auch in schwierigen Zeiten.
Tanja Regele, was machst du, wenn du nicht schlafen kannst?
Wovon träumst du?
Ich träume viel und intensiv und ich liebe es. Manchmal bin ich mir bewusst, dass ich träume und ich schaue gebannt auf meinen Traum wie auf einen Film. In einem immer mal wiederkehrenden Albtraum muss ich mehrere Fächer meiner Matura nachholen, weil damals scheinbar was schiefgelaufen ist. Für unsere Welt träume ich von sozialer Gerechtigkeit.
Anna Starzinger, was war dein schönster Traum?
Wovon träumst du?
Tagsüber träume ich von einer besseren Welt. Klingt vielleicht etwas platt, oder von Martin Luther King ausgeliehen, aber solche Träume, … solche Träume bereichern das menschliche Sein. Nächtens hingegen träume ich oft ganze Geschichten, manchmal sogar mit Musik, – dann freue ich mich besonders. Dann muss ich mich allerdings zwingen aufzuwachen und die Musik sofort aufschreiben, denn am nächsten Morgen bleibt davon nur ein schleierhafter Schatten der Erinnerung. Die liebsten Träume sind mir aber die klassischen „Flug- und Schwebe-Träume“.
Patrizia Pfeifer,was würdest du machen, wenn du Königin wärst?
Wovon träumst du?
Ich trete durch ein großes Tor und bin an einem Ort, in dem die Menschen, die Tiere und die Natur im Einklang leben. Und man sagt mir: „Jetzt bist du in der richtigen Welt“. Das ist ein schöner Traum.
Michaela Stocker, wie fühlst du dich, wenn du schlecht geschlafen hast?
Wovon träumst du?
Ich träume von phantastischen Tierwesen, unbekannten Orten, lieben Menschen und einer Welt, die noch ein bisschen mehr in Ordnung ist.
In „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann geht es um eine zu Geld gekommene Familie auf dem Lande, die durch Schicksalsschläge gezeichnet die Betäubung im Alkoholrausch sucht. Das hat den Regisseur Sarantos Zervoulakos und die Bühnen- und Kostümbildnerin Ece Anisoglu dazu gebracht – inspiriert durch die Lage und Beschaffenheit des Studios im Stadttheater Bozen und dem Wellnessparadies Südtirol – das Setting in eine Sauna zu versetzen, was Konsequenzen für die Spieler:innen hat. Außerdem beinhaltet dieses soziale Drama eine Kussszene mit simuliertem Sex, eine Geburt im Off und leichte körperliche Gewalt. Potenzielle Nacktheit ist durch die Verortung in einer Sauna auch zu erwarten. All diese Konsequenzen hat uns, die Vereinigten Bühnen Bozen, dazu angehalten, sich mit dem komplexen Thema der Intimitätskoordination zu befassen und für präventive Maßnahmen für Spieler:innen und alle Beteiligten zu sorgen.
Als Produktionsdramaturg recherchierte ich und wurde beim Alumni-Tag der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München tatsächlich fündig und durfte dort im Rahmen einer Fortbildung einen Vortrag von Franzy Deutscher, Vorsitzende des Berufsverbandes Intimitätskoordination und Kampfchoreografie e.V. besuchen. Hier lernte ich, dass Intimitätskoordination nicht nur Nacktheit auf der Bühne oder am Set koordiniert und professionell begleitet, sondern noch viel mehr für uns Kreativarbeiter:innen leisten kann. Es ist die Sensibilisierung für ein Thema, das uns alle im intimen Bereich des Proberaumes betrifft, schützt und bereichert. Da die Intimitätskoordination noch ziemlich stiefmütterlich im deutschsprachigen Theater und auch Film- und Fernsehbereich behandelt wird, habe ich vorab für Sie exklusiv ein Interview mit Franzy Deutscher vom Berufsverband Intimitätskoordination und Kampfchoreografie e. V. geführt.
Daniel Theuring: Liebe Franzy, kannst du uns einen kurzen Abriss geben, wie die Intimitätskoordination entstanden ist?
Franzy Deutscher: Ich behaupte, dass Intimitätsdarstellungen auf der Bühne so alt sind wie szenisches Kämpfen und damit wie das Theater selbst. Vielleicht auch nicht, das haben wir in den Theaterwissenschaften nicht behandelt – aber innerhalb der letzten ca. 3000 Jahre Theatergeschichte gab es mit Sicherheit in den einzelnen Abteilungen, vom Kostüm über Regie, Choreografie bis hin zum Schauspiel, empathische und technische Überlegungen, wie man Intimität weniger unangenehm und gefährlich für Darstellende, Produktionsteilnehmende und das Publikum erarbeitet. Erstaunlicherweise musste es 2016 werden, bis eine ‘best practice’ etabliert wurde, die das Fundament für das gelegt hat, was wir heute Intimitätskoordination (IK) nennen.
Die gesamte Genese historisch nachzuzeichnen würde wahrscheinlich das Programmheft sprengen, also verkürze ich: Die IK ist in ihrem Ursprung ein amerikanisches Produkt, das in den 2010er Jahren u.a. von den Schauspielerinnen und Kampfchoreografinnen Tonia Sina, Alicia Rhodis und Shioban Richardson entwickelt wurde. Diese drei haben mit ihren „5 pillars of Intimacy“ die Grundlage geschaffen, auf Basis derer vor allem die großen amerikanischen Produktionsfirmen (bspw. HBO) „golden standards“ auch an europäische Sets gebracht haben. Grob lässt sich sagen, dass diese Techniken und Methoden ca. 2018 über Großbritannien aufs europäische Festland gekommen sind.
Wir begreifen IK gerne als Kulturwandelphänomen und Handwerkszeug. Ohne die grundsätzliche Bereitschaft bestehende Arbeitsverhältnisse in Frage zu stellen, die in der darstellenden Kunst oft noch auf Ausbeutung, Missbrauch und überholten Hierarchien beruhen, hätte sie keinen fruchtbaren Boden. Ganz konkret zu nennen sind Phänomene wie die me-too-Bewegung (ausgelöst durch den Weinstein-Skandal), die Anstrengungen der Bühnenverbände (bspw. das Veröffentlichen eines Verhaltenskodex gegen Machtmissbrauch vom Dt. Bühnenverein), das Veröffentlichen u.a. der Studie zu „Macht und Struktur am Theater“ (Thomas Schmidt), sowie die Skandale, die sich vom Burgtheater bis zum Maxim Gorki Theater gezogen haben und ziehen. Der Ruf wurde laut nach mehr Arbeitssicherheit bei gleichzeitiger Wahrung künstlerischer Kreativität und Virtuosität.
Dabei geht es nicht darum, alle Kreativschaffenden unter Generalverdacht zu stellen. Es geht darum, intime Szenen auf der Bühne und im Film sicherer zu machen. Heißt: Grenzüberschreitungen auf körperlicher und seelischer Ebene – von Machtmissbrauch bis sexuellem Missbrauch in der kreativen Arbeit einzudämmen. Und zwar durch konkrete Techniken und klare Kommunikationsstrukturen innerhalb der Häuser, für die Probenabläufe und innerhalb der Teams.
Mittlerweile ist die IK in den USA ein großer Zertifikationsmarkt mit unterschiedlichen Ausbildungsangeboten. Egal welche der vielen Schulen man sich anschaut, alle arbeiten mit den oben angesprochenen „5 Säulen“ der IK: Consent (also informierte Zustimmung), Context (welche Form und warum überhaupt Intimität), Communication, Choreography (meistens Simulation), Closure (das Trennen von Rolle und Privatkörper). Die Aufgabe im europäischen Raum ist es nun, die amerikanische Vorlage an unsere jeweiligen kulturellen Begebenheiten sprachlich und inhaltlich anzupassen. Das versuchen wir im deutschsprachigen Raum ganz konkret als Berufsverband für Intimitätskoordination und Kampfchoreografie (BIK) bspw. indem wir Richtlinien und Infomaterial für den Umgang mit szenischer Intimität erarbeiten, an Theatern und Hochschulen sind und eigene Weiterbildungsangebote anbieten.
Intimitäskoordinatorin Franzy Deutscher Foto: Marc Fuhrmann
DT: Was bedeutet Nacktheit im Theater?
FD: Im besten Fall eine inszenatorische Notwendigkeit mit künstlerischem Mehrwert – keine Willkür. Warum ist es konzeptuell und dramaturgisch sinnvoll, dass die Figuren nackt gezeigt werden? Was löst das beim Publikum aus? Was bei den Kolleg:innen? Ich bin für Nacktheit und gegen in Watte gepackte Kunst. Aber ein Publikum spürt, ob sich die Rolle oder der Privatkörper da oben unwohl fühlt. Das ist nicht notwendig. Um die Nacktheit bei der Rolle und im Spiel zu lassen, braucht es eine gute und klare Probenführung mit geschlossenen Proben, professionelle Absprachen zwischen Schauspiel, Kostüm und Regie und eine transparente Kommunikation mit dem Haus, der Presse usw.
DT: Im Theater wird, genau wie beim Film und Fernsehen, viel Erlebtes aus der eigenen Arbeitserfahrung von der Hospitant:in bis zur Intendant:in nachgeahmt und weitergegeben, eigentlich genau wie auch in Familien. Das kann zu einem Problem werden, oder?
FD: Ich glaube, dass Nachahmung, mimesis, und Tradition wichtig sind, um Systeme grundsätzlich zu verstehen. Die Aufgabe der Kunst ist es dann, diese Systeme in Frage zu stellen und neue Antworten zu skizzieren und Wege zu finden, sich jenseits von Zwängen und persönlichen Anhaftungen auszudrücken. Das setzt eine Kommunikation auf Augenhöhe und auf einer Meta-Ebene voraus: Was machen wir da eigentlich und wie wollen wir das machen? Die Bühne ist ein Wunder-voller Ort, an dem die Wirklichkeit anders erfahrbar gemacht und Seh- und Fühlgewohnheiten aufgebrochen werden können. Zum Problem wird es, wenn wir unüberlegt Stereotype reproduzieren, die diskriminierend, rassistisch oder in welcher Form auch immer verletzend sind. Das gilt für die Probenarbeit, also das “wie wollen wir Theater machen” gleichsam wie für die Inszenierung, also “was wollen wir mit welchen Mitteln wie darstellen”?
DT: Vieles, was vermeintlich als genial gilt, kann auch ungesund sein. So sollten die Spieler:innen lernen, sauber zwischen Rolle und Privatperson zu unterscheiden und zu trennen. Das ist, wie Du sagst, auch Arbeitsschutz, den man sich wie technische Arbeitsschutzmaßnahmen vorstellen kann, oder?
FD: Ich maße mir nicht an, Proben zu verurteilen, bei denen ich nicht dabei war, oder jeden Geniekult per se in Frage zu stellen. Arbeitsschutz klingt auch erstmal unsexy und nach trockener Sicherheitseinweisung. Produktiver wird es, wenn wir das, was du als Trennung Rolle:Privatperson beschreibst, gleichsetzen mit Selbstverantwortung. Quasi als Gegenpol zur künstlerischen Selbstaufgabe oder Selbstüberwindung für eine höhere Sache/Person, wo ich die Verantwortung für mich in die Hände eines “Genies” gebe. Und damit leider auch Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen die Türen geöffnet werden. Selbstverantwortung und richtiges Grenzen setzen muss man lernen und das braucht Raum in den Proben. Sie sind aber ein Fundament, dass auch geniale Produktionen sicherer werden. Weil ich für meine eigene mentale Sicherheit gut vorsorgen kann. Das sollte Handwerkszeug für eine/n Schauspieler:in sein. Die Trennung von semiotischem Körper und Leib braucht Übung und nicht alle Schauspieltechniken lassen diese Trennung zu. Grundsätzlich gibt es dafür aber eine Sprache und die erlaubt es uns zu sagen: “Ich Franzy führe die Choreografie aus, meine Rolle X erlebt, was zwischen mir und der Figur Y passiert”. Ich kann somit Dinge in einer Rolle erleben, die ich als Privatperson vielleicht ablehnen würde, bin mir aber bewusst, dass meine Bühnenpersona am Arbeitsort bleibt und meine Privatperson, mein Leib, unbeschadet davon in den Alltag zu meiner Familie und in mein Bett zurückkehrt. Es gibt unterschiedliche Techniken dafür, es lohnt sich hier auszuprobieren.
DT: Wenn wir jetzt einmal den Fokus auf konkrete Probensituationen lenken, welche Maßnahmen gibst du Produktionsteams an die Hand?
FD: Im besten Fall bin ich ja nicht nur für einen Workshop da, sondern unterstütze die Vision des Produktionsteams und die Grenzen der Spieler:innen durch eine kontinuierliche Probenbetreuung. Nach einer Sichtung und Bewertung des Texts übernehme ich dann die für die expliziten Szenen notwendige Kommunikation zwischen den Abteilungen. Das sind Vorgespräche mit der Regie und Dramaturgie, wie sie sich die konkreten Szenen vorstellt. Mit dem Schauspiel, ihren Vorstellungen und Grenzen. Auf dieser Basis erarbeite ich mit Schauspiel und Regie, unterstützt von Kostüm und Bühnenbild, die Choreografie oder biete Variationen an. Außerdem entwickle ich mit dem Team Probenrituale für Proben mit exponiertem Inhalt. Ich bin neutrale Instanz und Kreativposition, die als Ansprechperson für die Produktionsteilnehmenden und das Haus für intime Szenen zuständig ist. Schreibe Gefährdungsanalysen, Nacktheitsvereinbarungen und Probenberichte. Was wir für die Palmetshofer-Produktion gemacht haben, war eine grundsätzliche Einführung in das Thema Intimitätskoordination, wo das Team Techniken und Handwerkszeug gelernt hat, so dass sie eigenverantwortlich Szenen, die wir als “red Flags” bezeichnen würden, erarbeiten und probieren können. Darüber hinaus hat das Haus Hinweise für Dispo, Kommunikationswege und Protokolle bekommen. Grundsätzlich lässt sich sagen: Intimitätskoordination hat eine eigene Sprache und benennt Tabus. Es ist aber auch irrsinnig viel Papierkram. Sie gibt einen organisatorischen Rahmen vor für bislang als selbstverständlich angenommene Prozesse. Kurzum: sie macht Probenprozesse und damit auch das Endergebnis weniger seltsam… Neudeutsch wahrscheinlich: weniger cringe.
DT: Aber meistens kannst du ja als Intimitätskoordinatorin nicht täglich Mäuschen bei den Proben sein. Wie funktioniert das dann?
FD: Wir sind nicht die Moralpolizei und keine therapeutische Anlaufstelle. Wir gehen davon aus, dass vornehmlich professionell ausgebildete Erwachsene an ihrem Arbeitsort gut geschützt, eigenverantwortlich, respektvoll und kreativ ihrer Arbeit nachgehen. Und dass die/der Arbeitgeber:in das in Form von Struktur, Raum und Personal unterstützt. Haus und Produktionsteilnehmer:innen bekommen Richtlinien für ihre Probenarbeit und für den späteren Spielbetrieb. Außerdem werden Strukturen und Protokolle im Haus erarbeitet, die bei Grenzüberschreitungen ziehen sollten. Um die Spieler:innen zu schützen, greifen obendrein die oben angesprochenen Dokumente, die zum Teil als Vereinbarungen unterzeichnet oder als Dokumentationen dem Haus vorliegen. Am Ende sollte jede Form von szenischer Intimität freiwillig ausgeführt, notiert und wiederholbar sein.
DT: Theater ist nach wie vor sehr hierarchisch aufgebaut, oft wird diese Macht unbewusst oder sogar bewusst missbraucht. Was kann da jede/r Einzelne tun?
FD: Hinterfragen, welche Macht man selbst im Raum hat. Kommunizieren, wenn kein Raum zur Entfaltung der eigenen Kreativität zugestanden wird. Den Raum sicherer machen, ohne sich und andere dabei zu gefährden. Das kann sein: Auf Gossip verzichten, sich nicht über Kolleg:innen stellen, kein Arschloch sein. Im Zweifelsfall gehen. Das sagt sich so leicht. Als Künstler:innen stecken wir immer in Abhängigkeitsverhältnissen: Geld, Anerkennung, usw. Ich bin als IK ja auch nicht frei von Macht, nur weil ich das gerne hätte. Es ist auch nicht schlimm, eine Position zu besetzen, sondern wesentlich. Man sollte sich nur im Klaren sein, welche Position das konkret ist und was das für Konsequenzen hat. Eine Kollegin hat mal gesagt: “Ich muss wissen, wann ich mich groß und wann ich mich klein machen muss” – das fasst es eigentlich ganz gut zusammen. Sich nicht wichtig machen, weil es toll ist, dass einem alle zuhören, sondern die eigene Position zum Wohle der Produktionsteilnehmer:innen und der Produktion einsetzen. Mir persönlich hilft es menschlich und fehlbar zu sein. Ich entschuldige mich und gebe meine Fehler zu: ich kann nicht alles wissen. Aber ich kann mir Hilfe holen und besser werden, indem ich transparent bleibe. Und ich kann Platz machen, wenn jemand etwas besser weiß als ich, auch wenn er oder sie weniger Erfahrung hat oder anders aussieht als ich.
DT: Aber wenn etwas bei einem/r Kolleg:in schief reinläuft, dann bleibt das bei vielen von uns im Gedächtnis bewusst oder unbewusst und wird Konsequenzen für die Zukunft haben. Da sind wir alle, und da nehme ich mich nicht aus, ziemliche Dickhäuter. Wie können wir damit objektiver umgehen?
FD: Also, wenn uns der Strukturalismus eine Sache versucht hat zu erklären, dann dass es in zwischenmenschlichen Beziehungen keine Objektivität geben kann. Meinst du Dickhäuter, als “nicht vergessen können” und den Konflikt weiter in die Arbeit mittragen?
DT: Ja …
FD: Als Intimitätskoordinator:innen sind wir keine Therapeut:innen, daher maße ich mir nicht an, eine allumfassende Antwort zu geben. Wir können zwar Konflikte transparent machen, aber wir sind auch keine ausgebildete Mediationsposition. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Hat unsere Arbeit mit Konflikten zu tun? Auf jeden Fall! Im Theater stellen wir Konflikte dar. Wir arbeiten in kurzer Zeit auf engem Raum mit Menschen, die alle unterschiedliche Konfliktpotentiale mit auf die Probe bringen. Ich denke, da spielen mindestens drei Ebenen mit rein: Struktur des Hauses, Struktur der Proben, Persönlichkeitsstruktur. Um die Vielheit zu unterstützen, brauchen wir einen professionellen Rahmen, der zulässt, dass produktiv zusammengearbeitet werden kann. Wie immer kann der Schlüssel nur sein: Kommunikation und klares Teamgefüge. Was ist der Rahmen, was sind die Regeln, wer im Team braucht was und wer kann was aus welcher Position heraus leisten. Um Konflikte zu lösen, hilft es zu fragen: brauchen wir/ich professionelle Hilfe (Mediation, Therapie, Vertrauensstelle), müssen wir/ich die Struktur anpassen und muss ich an mir arbeiten? Und dann handeln.
DT: Auf der anderen Seite ist es auch für die Darstellenden sicher immer tagesabhängig, auch wenn wir alle erwachsene Menschen sind, den inneren Schweinehund zu überwinden und frei von Eitelkeiten und Befindlichkeiten zu bleiben, ist nicht immer leicht. Wie sind Deine Erfahrungen damit gerade im Theater?
FD: Richtig, wir sind alle Menschen, deren Tagesform variiert und bei denen die Chemie zwischenmenschlich mal besser, mal weniger gut funktioniert. Grundsätzlich sind wir aber alle daran interessiert, dass die Lebenszeit, die wir in unsere Arbeit einfließen lassen, nicht vergeudet ist. Im Regelfall arbeite ich mit Theatermenschen zusammen, deren Arbeitsethos gesund, diszipliniert und professionell ist. Klar, schert mal eine/r aus. Wenn das im Rahmen ist, kann ein gutes Team das puffern und entweder stehen lassen oder entsprechend einfangen. Ich arbeite gerne in Kollektiven und Produktionsteams zusammen, auch weil meine Meinung dann nicht die einzig gültige Meinung ist, sondern es Verhandlungsraum, also Spielraum gibt, das “wie machen wir eigentlich Theater” zu hinterfragen. Dann wird das Theater seiner Aufgabe, ein politischer und sozialer Kulturraum zu sein, gerecht.
DT: Auf jeden Fall hat mich deine Arbeit für dieses Thema sensibilisiert und auch bereichert. In Zukunft mache ich es mir in diesem Bereich nicht mehr leicht und versuche auch die Zivilcourage aufzubringen, um toxische Prozesse zu stoppen. Ich glaube, das muss der erste Schritt sein, um in die Zukunft eines besseren Theaters zu gehen.
FD: Es freut mich, dass es für dich Möglichkeiten aufgemacht hat und du Tatendrang spürst, “toxische Prozesse” aufzuhalten. Das ist sehr löblich und in der Position als fester Dramaturg wahrscheinlich einfacher als als freischaffender Gast. Für mich ist der erste Schritt, es selbst besser als gestern zu machen. Oder Räume zu schaffen, in denen angstfreier und mutiger gearbeitet werden kann. Ich lerne immer auch noch dazu und werde in ein paar Jahren mit Sicherheit zurückschauen und sagen: “Ah! Das hätte ich besser machen können.” Das kommt mit Erfahrung. Und durch Gespräche mit anderen IKs und Kreativschaffenden.
DT: Du liest die Fassungen oder Drehbücher in Vorbereitung Deiner Workshops. Wie hat die Überschreibung von Ewald Palmetshofer auf dich gewirkt?
FD: Auf jeden Fall lese ich die, ja. Das gleiche gilt für meine Arbeit als Kampfchoreographin – schließlich wollen wir ja körperliche Geschichten erzählen, da kann ich den Kontext und die Figurenentwicklung nicht außen vor lassen. Wie die Überschreibung auf mich gewirkt hat? Da antworte ich jetzt mal als Literatur- und Theaterwissenschaflerin. Ich mag Palmetshofers rhythmischen Schreibstil. Dieses inhaltliche Annähern und Suchen – obwohl die Figuren ja irgendwie schon wissen; diese beiden Ebenen zeigen sich in der unvollständigen Syntax und in diesen zeitweise schweren und tiefen Pausen, die ohne Ton das Unaussprechliche aussprechen. Es bleibt wie bei Hauptmann ein soziales Drama, das mal anzieht und mal abstößt. Ich bin froh, dass Palmetshofer hier und da an den Werte-Reglern gedreht hat und Anpassungen vorgenommen hat, die es auch in der post Postmoderne lesbar und empfindbar machen. Ich mochte die Überschreibung der Frauenfiguren Helene und Martha. Dass sich Helene nicht umbringen musste wegen unerfüllter Liebe und dass Martha auf der Bühne sichtbar und inhaltlich abgeklärter dargestellt wird, dass sie nicht nur Anhängsel von Hoffmann ist. Gottseidank ist diese inzestuöse Neffenfigur aus dem Drama rausgestrichen. Den mochte ich nie.
DT: Hast du dich mit dem Thema und/oder einer Figur identifizieren können, oder gibt es Themen/Situationen daraus, die du kennst?
FD: Ich mochte Helene und fand sie toll und emanzipiert, gleichzeitig aber unselbstständig und traurig. Auch dem Prototyp „Hofmann” begegnet man im richtigen Leben sehr häufig. Ich wohne ja in München. Als Mutter von zwei Kindern hat mich die Geburt und besonders Marthas „bringt es weg” arg mitgenommen. Der Schmerz im Stück, der eigentlich an keiner der Figuren vorbeigeht, ausgenommen vielleicht Loth, aber der leidet ja an der Welt, ist bitter. Da wird die emotionale Enge in der Sauna zum Schmerz über die vielen Krisen und Kriege, die uns derzeit umgeben.
DT: Welche Szene ist dir bis heute am plastischsten in Erinnerung geblieben?
FD: Das Finale in der Sauna, wo alle an sich, in sich und am andern kollabieren. Ich bin gespannt, wie der Regisseur Sarantos und das Ensemble das szenisch umsetzen und freue mich auf die Premiere.
DT: Ewald Palmetshofer musste Martha eine Stimme und eine Figur schenken, weil sie bei Gerhart Hauptmann im ersten Stock angenommen wird, man nur ab und an ein Knarzen der Dielen wahrnehmen sollte. Er dachte daran schon 2012, als noch keine Anna Bergmann in Karlsruhe das patriarchale Theatersystem in Frage gestellt hat. Wie gefällt dir diese mündige Frau, die von Depressionen, Alkohol und Zigarettenmissbrauch gezeichnet ist und am Ende ein totes Kind gebiert?
FD: Wie viele der Figuren finde ich sie überzeichnet und ein Abbild einer werdenden Mutter, die gar keinen Bock hat, diesem Mutterbild zu entsprechen. Vielmehr Mutter sein will, um ihr altes Ich hinter sich lassen zu können. Ich habe Martha nicht als mündige Frau empfunden, eher zwischen Zwängen, verzweifelter Mündigkeit und abgeklärter Müdigkeit gelesen.
Insgesamt ist das Familienbild sehr dekadent und klassistisch geprägt, also sich seiner Klasse sehr bewusst und dabei scheinoffen aber doch ausgrenzend. Manche davon wollen aus Werten ausbrechen und scheitern dann doch daran, weil sie nicht wissen wohin. Irgendwie traurig.
Elisabeth Thaler:Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform?
Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.
Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt?
Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht…
Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“?
Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.
Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern?
Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte.
Magisch, mannigfaltig, groß und grün: Was ist die Transart OASIE noch alles? Hier gibt es Unsinniges, Eigensinniges und Vielsinniges zu entdecken. Wir bewegen uns achtsam und langsam, erkunden gemeinsam einen neuen Ort, der vielleicht bald nicht mehr sein wird … Wenn wir Spuren erspähen, folgen wir ihnen behutsam, lassen uns von ihnen leiten, begleiten und inspirieren: Farben, Formen, Schatten und Muster weisen uns den Weg über ein Gelände, wo Stadt und Natur und Malerei miteinander verschmelzen. Augen auf, Ohren auf, Hände und Füße bewegen sich, die Nase schnüffelt und erforscht alles. Und FLAMINGA ruft laut: Welche Perspektiven verstecken sich in diesem Raum? Hoch, tief oder in der Mitte? Hinten oder vorne? Und wir folgen ihrem Ruf: Aus verschiedenen Blickrichtungen nehmen wir ihn wahr, diesen neuen Raum. Und fragen uns auch: Welche Geschichten mögen hier wohl noch entdeckt werden? Welche Wörter müssen dafür noch gefunden und erfunden werden?
Eltern können mit ihren Kindern am Anfang zusammen teilnehmen, im zweiten Teil warten die Eltern in der Chill-Lounge auf ihre Kinder. Anmeldung vor Ort / info@kidscultureclub.it / Tel. +39 353 446 6954
Wir freuen uns, Ihnen heute das Programm der Spielzeit 2024-2025 der Vereinigten Bühnen Bozen präsentieren zu dürfen: die zweite Saison unter der neuen Intendanz von Rudolf Frey. Rund 25 Mitarbeiter:innen aus unserem Stammteam und etwa 100 regionale und internationale Gäste arbeiten an den Vereinigten Bühnen Bozen – dem zeitgenössischen, eigenproduzierenden Theaterbetrieb Südtirols, der in dieser Spielzeit erneut rund hundert Vorstellungen anbieten wird. Es ist unser Ziel, mit Begeisterung einen einzigartigen Raum für Auseinandersetzung zwischen Bekanntem und Unbekanntem zu schaffen, der sinnliches Theater in Südtirol am Puls der Zeit ermöglicht.
Auf viele spannende Begegnungen!
Judith Gögele, Präsidentin
Rudolf Frey, Intendant
Fotos: Luca Guadagnini
„Auch in der kommenden Spielzeit 2024/25 der Vereinigten Bühnen Bozen werden wir unsere bereits in der vergangenen Saison bekundeten Schlagworte MULTIDISZIPLINARITÄT und ZEITGENOSSENSCHAFT weiterverfolgen. Darüber hinaus freut mich, dass wir die für Südtirol völlig neue Form des immersiven Theaters in Zusammenarbeit mit den Shooting-Stars der österreichischen Theaterszene Nesterval zeigen werden. Mit Anna Gschnitzer und Sepp Mall bringen wir zwei prägende Stimmen der Südtiroler Gegenwart auf die Bühne und auch die Kollaboration mit der regionalen Musikwelt spiegelt sich in der Zusammenarbeit mit Maria Moling wider. Die große Musiktheater-Produktion ist im kommenden Jahr neuerlich ein mitreißendes Rock-Musical, einer der bemerkenswertesten Broadway-Titel: Jonathan Larsons Rent. Alle Stücke der Spielzeit verbinden vielfältige Fragestellungen rund um familiäre Zugehörigkeit und menschliche Koexistenz in unserer fragilen Welt der Gegenwart.“
Ein Gespräch mit der Musikalischen Leiterin Elisa Gogou und der Regisseurin Susanne Lietzow
Elisabeth Thaler: „Die lustige Witwe“ ist deine erste Operetteninszenierung. Was hat dich an diesem Genre gereizt?
Susanne Lietzow: Im ersten Moment hat mich der Verruf des Genres gereizt. Die Operette wurde nach dem Vorbild der Pariser Opéra comique als eigenständige Kunstform erfunden, um der Oper eine freiere Art von Musiktheater entgegenzustellen. Die Aufführungsgeschichte jedoch hat die Operette extrem in ein konservatives Eck gebracht. Es gibt nun viele Bestrebungen, das Genre zu aktualisieren und eine andere Generation von Zuschauer:innen neu dafür zu gewinnen. Das hat mich interessiert. „Die lustige Witwe“ ist zudem eine Komödie, die auch einen absurden Zugriff erlaubt, mit einer wunderschönen Liebesgeschichte im Zentrum.
Die Operette wird oft als „leichte Unterhaltung“ angesehen. Was ist die Herausforderung, eine Operette zu dirigieren?
Elisa Gogou: Als Kapellmeister:in ist es absolut notwendig, Operetten zu dirigieren, weil es technisch zu den wichtigsten Aufgaben gehört. Zum Beispiel die Wechsel der Tempi, Übergänge, Auftakte … lernt man nur durch die Operette. Sonst kann man Puccini ecc. nicht begleiten. Einen Walzer zu dirigieren, ist nämlich alles andere als einfach.
Elisa Gogou Foto: Anna Cerrato
„Die lustige Witwe“ wird als 1. Tanzoperette bezeichnet. Was war musikalisch das Neue an diesem Werk?
Elisa Gogou: Lehár war im Genre der Operette ein Anfänger und musste seinen eigenen Stil finden. Es gab Berührungspunkte durch seine Biografie, da er als Violinist in der Kapelle seines Vaters gespielt hat, der wiederum am Theater an der Wien unter Franz von Suppé gespielt hat. Dennoch kannte Lehár als Militärkapellmeister den Walzer nicht sehr gut. Er schaffte es aber, derart kreative und geniale Melodien zu schreiben, die nur mit der „Fledermaus“ zu vergleichen sind. In der „Lustigen Witwe“ unterscheidet er musikalisch zwischen den beiden Regionen. Für Pontevedro schreibt er Mazurka, Polonaise, Kolo. Wenn Hanna Glawari zu den Herren spricht, benutzt sie den Walzer. Für die Franzosen komponiert er Cancan, Galopp, Märsche und den Langsamen Walzer. Mit dieser Operette läutete Lehár eine neue Ära ein. Danach wurden international viele Stücke nach dem Vorbild der „Lustigen Witwe“ geschrieben, doch niemand konnte sie übertreffen.
Lehár ging nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch inhaltlich. Er und seine Librettisten León und Stein sprachen aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an. Das fiktive „Pontevedero“ verweist beispielsweise auf „Montenegro“, die „Damenwahl“ im 1. Finale bezieht sich auf das damals diskutierte allgemeine Wahlrecht. Hanna Glawari gilt als moderne Darstellung einer unabhängigen Frau. Wo trifft dieses Stück auch heute noch den Nerv der Zeit?
Susanne Lietzow: Die Frauenfiguren in der „Lustigen Witwe“ sind von Lehár sehr stark gezeichnet. Dennoch wissen wir alle, dass wir heute frauenpolitisch anders mit diesen Stoffen umgehen müssen, weil sie uninterpretiert auf der Bühne nicht mehr funktionieren. Vor allem muss man die „Altherrenwitze“ eliminieren. Es gibt die wehrhafte Frau im Zentrum, die selbstbewusst um ihre Zukunft kämpft. Es war mir auch ein Anliegen, die Pariser Grisetten nicht als männerbelustigende Hupfdohlen auf die Bühne zu stellen, sondern als Frauen, die sich für dieses Leben bewusst entschieden haben. Diese Umdrehungen sind mir sehr wichtig. Zudem ist es ja auch eine Komödie, und Komödien haben immer einen tieferen Hintergrund und Sinn. Natürlich kann das Spiel mit einer Exilgesellschaft, die zu Hause eine Diktatur erlebt hat und sehr, sehr gerne das demokratische System in Paris mit lebt, als Assoziation ins Jetzt gelesen werden, wo Diktaturen sich wieder ausbreiten und die über Jahre erkämpften Rechte und Freiheiten unserer Gesellschaft wieder angegriffen werden.
Ein humorvoller und gleichzeitig politischer Zugang scheinen gerade bei der Operette oft ein Widerspruch. Wie bringst du beides zusammen?
Susanne Lietzow: Man verstärkt Assoziationen. Als Beispiel nenne ich das Thema „Klassengesellschaft“ in der Beziehung von Hanna und Danilo. Bei uns stammt sie nicht vom Landadel ab, sondern ist ein Dienstmädchen und gehört einem Stand an, der der Liebe zu Danilo völlig im Weg steht. Das Spannende ist, dass sich Hanna komplett darüber hinwegsetzt. In unserer Inszenierung haben wir den beiden eine uneheliche Tochter zur Seite gestellt. Hanna legt großen Wert darauf, dass dieses Mädchen eine so gute Ausbildung bekommt, dass sie auch ohne Mann überleben könnte. Das kann Hanna noch nicht.
Susanne Lietzow Foto: Susanne Lietzow
Wenn wir auf die Liebe schauen, sehen wir verschiedene Liebesgeschichten: die unerfüllte Liebe, die verbotene Liebe, den erotischen Liebeskampf. Spürt man diese Unterschiede auch in der Musik?
Elisa Gogou: In Lehárs Musik geht alles um Erotik und Sinnlichkeit, aber in verschiedenen Facetten. Valencienne ist eine Kokette, das spürt man auch in der Musik, die ihren Charakter beschreibt, ihre Gefühle und Bewegungen. Wenn man die Melodien hört, sieht man Valencienne vor sich, wie sie mit Leichtigkeit und spielerisch mit den Männern umgeht. Das haben die Frauen in dieser Gesellschaft trainiert. Wenn Hanna zu den Männern spricht und ihnen nahekommt, benutzt sie den Langsamen Walzer. Sie hat eine starke Seite und darf entscheiden, wen sie nehmen kann und wen nicht. Beim Duett „Lippen schweigen“ spürt man, dass sich Hanna und Danilo lieben. Es war ihr Schicksal, dass sie sich wiedertreffen und wiederfinden, egal wie ihr Leben inzwischen verlaufen ist. Das Chanson der Grisetten hingegen ist frech. Die Beschreibung der Charaktere ist musikalisch sehr durchsichtig.
Susanne, du hast die Dialoge zum Teil umgeschrieben und aktualisiert. Wie bist du mit dem Text umgegangen?
Susanne Lietzow: Manchmal ist der Text im Original „verplaudert“, manchmal altmodisch und frauenfeindlich. Ich habe versucht, die Sprache frecher und direkter zu nehmen. Sprache ist eine totale Behauptung. Wir spielen Tschechow am Theater und tun so, als ob wir alle Russ:innen wären. Mich hat das Aufeinanderprallen von Franzosen und Slawen in der „Lustigen Witwe“ interessiert, weil es zwei sehr verschiedene Mentalitäten sind, auch sprachlich. Es sind zwei unterschiedliche Melodien. Das fand ich spannend und sehr schön.
Elisa Gogou: Ich finde es auch so toll, dass die Figuren die eigene Sprache benutzen, besonders um zu schimpfen.
Die 20er-Jahre, der „Tanz auf dem Vulkan“, spielen in unserer Inszenierung eine große Rolle. Wo siehst du eine Verbindung zwischen den 20-er Jahren des 20. und den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts?
Susanne Lietzow: Wir haben die Operette zeitlich nicht ins Heute gesetzt, sondern in die 20-er Jahre. Mich berührt diese Zeit, in der nach der großen Verwerfung des 1. Weltkrieges 20 Jahre später wieder ein Weltkrieg möglich war. In den 20-er Jahren erlebten die Menschen eine enorme Aufbruchstimmung in allen Bereichen: für Frauen, für Demokratie … es war eine Zeitenöffnung, die leider nur kurz gedauert hat. Wie war es möglich, nach diesem Gefühl des Aufbruchs so einen Backlash zu veranstalten? Unsere Öffnung heute hat etwas länger angedauert, doch erleben wir zur Zeit leider auch wieder Demokratieverlust, Rückschritt in allen Bereichen. Insofern ist es schön, dass wir auf der Bühne in eine Welt hineinschauen, wo Aufbruchstimmung herrscht.
Elisa, was liebst du an der „Lustigen Witwe“?
Elisa Gogou: Ich liebe die Vielfältigkeit und die Freiheit, die diese Operette zulässt. Die Künstler:innen müssen sich auf der Bühne frei bewegen und singen können. Ich muss als Dirigentin in der Lage sein, das Orchester mitschweben zu lassen. In der „Lustigen Witwe“ ist die Musik so extrovertiert, dass die Sänger:innen die Gefühle spüren, mir in den Graben geben und ich als Mediatorin diese dem Orchester weitergeben muss. Das macht jede Vorstellung spannend und nie langweilig.